Mädchen drängte ihren Freund zum Suizid
In Massachusetts ist ein 18-jähriges Mädchen angeklagt, ihren zaudernden Freund zum Suizid ermutigt zu haben. Ihre Text-Messages schockieren.
Michelle Carter wirkt auf den ersten Blick unschuldig. Doch wenn man die SMS liest, die sie vergangenes Jahr mit ihrem damaligen und mittlerweile verstorbenen Freund Conrad Roy austauschte, entpuppt sich das heute 18-jährige Mädchen als Todesengel ohne Skrupel.
Carter muss sich ab 2. Oktober vor dem Jugendgericht von New Bedford im US-Gliedstaat Massachusetts gegen den Vorwurf wehren, sie habe Roy mit Dutzenden von Textnachrichten und Telefonanrufen dazu gedrängt, seinem Leben ein Ende zu setzen. Die Anklage lautet auf Totschlag.
Verteidiger plädiert auf Gehirnwäsche
An einem Hearing versuchte ihr Rechtsanwalt Joseph Cataldo letzte Woche, das Gericht dazu zu bewegen, die Klage abzuweisen. Seine Mandantin sei von dem zum Freitod entschlossenen Freund einer Gehirnwäsche unterzogen worden, behauptete er. «Er überredete ein junges, beeinflussbares Mädchen», sagte Cataldo laut «South Coast Today». «Am Schluss brachte er sie dazu, seinen Plan zu unterstützen.»
Nach dem Wortlaut der ausgetauschten Texte aber waren die Verhältnisse eher umgekehrt. Wie die «Washington Post» berichtet, zögerte der mit Depressionen kämpfende Roy immer wieder, sein Vorhaben umzusetzen. Doch zwei Jahre, nachdem die zwei Teenager ihre – mehrheitlich online gepflegte – Beziehung aufnahmen, wurde das Mädchen ungeduldig. «Du sagst immer, du würdest es tun, aber dann tust du es nie», klagte sie. «Ich will sicher sein, dass du es heute Abend wirklich tust.»
Sie trieb ihn bis zum Schluss an
Michelle Carter kam auch auf das Thema Suizid zurück, wenn Conrad Roy über anderes sprechen wollte. «Wie war dein Tag?», fragte er einmal. Carter fragte zurück: «Wann tust du es?». Später textete Roy: «Ich war ein bisschen arbeiten.» Worauf sie schrieb: «Wann wirst du es tun? Hör auf, der Frage aus dem Weg zu gehen!»
Carter trieb Roy noch an, als dieser dabei war, sich das Leben zu nehmen. Der junge Mann hatte am 12. Juli 2014 auf einem Parkplatz eine mit Benzin betriebene Wasserpumpe so eingerichtet, dass die Abgase mit dem giftigen Kohlenmonoxid in die Kabine seines Trucks strömten. Nach seinem Tod textete Carter ihrer Freundin: «Ehrlich, ich hätte es stoppen können. Ich war am Telefon mit ihm, und er stieg aus dem Auto aus», als das Kohlenmonoxid sich ausgebreitet habe. Da habe sie ihm gesagt: «Steig sofort wieder ein.» Am nächsten Tag wurde Roy tot aufgefunden.
Beweise für Schuldbewusstsein
Das Verhalten des Paars hat wenig mit einem romantischen Doppelselbstmord gemein, wie ihn etwa William Shakespeare in «Romeo und Julia» beschreibt. Nach den vorgelegten Beweismitteln erscheint Carter als die treibende Kraft. Sie recherchierte Methoden für den Selbstmord und pushte Roy, seine Zweifel zu überwinden. Er würde ihr Schutzengel im Himmel sein, schrieb sie ihm.
Für die Anklage ist ausschlaggebend, dass das Mädchen kein Schuldbewusstsein zeigt. «Wenn die Polizei meine Messages findet, bin ich erledigt», textete sie einer Freundin. «Seine Familie wird mich hassen und ich kann im Gefängnis landen.» Vor dem Suizid bat sie Roy, er solle die Texte löschen, doch die Ermittler fanden sie trotzdem.
Nach Roys Tod nahm sich Carter dem Thema Geisteskrankheit an. Sie organisierte einen Spendenanlass. Auf Facebook schrieb sie dazu: «Obwohl ich das Leben meines Freundes nicht retten konnte, will ich mich jetzt dafür engagieren, so viele andere Leben zu retten wie möglich.»
http://www.lessentiel.lu/de/news/panorama/story/28248360
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Das Semikolon-Tattoo gegen den Suizid
Alles hat ein Ende. Jedes Lied, jeder Satz und leider auch das Leben. Mal ist es länger, mal kürzer. So ist das nun mal – was beginnt, muss auch enden. Der Einfluss darauf ist nur bedingt. Weder den Anfang kann man wählen, noch das Ende herauszögern.
Verkürzen – ja, das ist möglich. In Deutschland sterben jedes Jahr etwa 10.000 Menschen durch Suizid und doch ist es immer noch ein Tabuthema. Diese Menschen treffen oft nach schweren Depressionen die Entscheidung, ihr Leben zu beenden. Sie beenden ihre Geschichte – setzen den allerletzten Punkt.
2013 hat die Amerikanerin Amy Bleuel nach dem Selbstmord ihres Vaters angefangen, das Ende bei Sätzen zu streichen. Und damit auch ein Zeichen für das Leben gesetzt: das Semikolon-Tattoo! Diese Kampagne geht unter die Haut, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist ein Schritt auf das Leben zu, gar wieder ins Leben hinein. Denn dieses besondere Tattoo hat eine wichtige Bedeutung: Es richtig sich gegen den Suizid. Statt das Leben – wie einen Satz mit einem Punkt – zu beenden, wird ein Semikolon gesetzt. Der Satz ist noch nicht zu Ende und das Leben geht weiter.
Mit der Semikolon-Kampagne soll weltweit Menschen mit Depressionen oder Selbstmordgedanken geholfen werden. Sie vereinen sich quasi zu einer Gemeinschaft und rufen sich mit dem Tattoo immer wieder ins Bewusstsein, dass ihre Geschichte noch nicht zu Ende erzählt ist. Das spendet nicht nur Hoffnung und Trost, sondern stellt natürlich auch das Leid der Betroffenen in den Fokus der Öffentlichkeit und dreht mächtig an der Toleranzschraube. Sie sind also endlich nicht mehr allein!
Nun mischt ebenso der Freunde fürs Leben e.V. bei der Kampagne mit und unterstützt sie mit einer weniger schmerzvollen Alternative zum echten Tattoo. In Zusammenarbeit mit dem Berliner Label FONRY gibt es nun auch nicht-permanente Tattoos mit dem Semikolon-Zeichen. Und das Beste: Der gesamte Erlös dieser Aktion wird für die Aufklärungsarbeit in den Bereichen Suizid und Depressionen bei jungen Menschen gespendet.
„Die Semikolon-Kampagne transportiert eine tolle Botschaft für mehr Toleranz und Aufklärung. Eine weit angelegte Kampagne im Zeichen der Suizidprävention ist schon lange überfällig.“, so Catharina Woitke von Freunde fürs Leben. Mit den nicht-permanten Tattoos kann sich die Kampagne jetzt noch viel stärker verbreiten und mehr Menschen ansprechen. So wird nicht nur das Tabuthema Suizid gebrochen, sondern auch immer mehr jungen Menschen ins Bewusstsein gerufen, dass sie ihre eigene Geschichte schreiben. Jeder hat die Wahl, wie sie aussieht. Der Beginn steht fest, doch das Ende ist für jeden offen.
Tattoos gibt es mittlerweile schon in sämtlichen Formen und besonders die goldenen Tattoos machen die Frauen momentan verrückt. Die Semikolon-Klebetattoos gibt es auf http://www.FONRY.de.
http://www.fashionstreet-berlin.de/das-s...-suizid/109597/
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HINTERGRUND UNKLAR
Autofahrer springt nach Unfall von Zoobrücke
ERSTELLT 12.10.2015
Ein gewöhnlicher Auffahrunfall auf der Zoobrücke in Köln hat sich zu einem dramatischen Fall entwickelt. Während der Unfallaufnahme der Polizei stürzte sich der mutmaßliche Unfallverursacher von der Brücke. Die Hintergründe sind ungewiss.
Köln.
Nach einem leichten Auffahrunfall auf der Zoobrücke ist am Montagmittag der mutmaßliche Unfallverursacher von der Brücke gesprungen. Er erlag seinen schweren Verletzungen. Die Hintergründe des dramatischen Falls sind noch vollkommen ungewiss.
Laut Polizei war der Kölner gegen zwölf Uhr in seinem Auto über die Innere Kanalstraße in Richtung Autobahnkreuz Köln-Ost gefahren.
Noch vor Überquerung des Rheins fuhr er im dichten Verkehr auf der rechten Spur einem Seat auf. An den Fahrzeugen entstand zwar nur ein geringer Sachschaden. „Es war ein ganz gewöhnlicher Auffahrunfall, wie er jeden Tag mehrfach passiert“, berichtete ein Ermittler. Dennoch verständigten sich beide Fahrer darauf, zur Unfallaufnahme die Polizei zu rufen, teilte ein Behördensprecher mit.
Zeugen von Seelsorger betreut
Kurz darauf traf ein Streifenwagen ein. Die Beamten hätten sich zunächst nach Verletzten erkundigt, heißt es. Einer begann damit, die Unfallstelle abzusichern, der andere sprach mit dem Seat-Fahrer. „Währenddessen entfernte sich der Verursacher wenige Meter in Richtung Brückengeländer“, berichtete der Polizeisprecher.
„Unvermittelt sprang er Sekunden später über die Brüstung auf das Rheinufer.“ Ein Notarzt wurde hinzugerufen, er konnte aber nur noch den Tod des Mannes feststellen. Über die Feuerwehr riefen die Streifenpolizisten einen Notfallseelsorger hinzu, der sich vor Ort um die geschockten Zeugen kümmerte.
Was den Mann zu dem Suizid trieb, ist laut Polizei noch vollkommen unklar. Wie zu erfahren war, hatte er jedenfalls keinerlei Einträge im Strafregister. In Begleitung eines Seelsorgers informierte die Polizei die Mutter seines Sohnes sowie weitere Angehörige.
„Die Ermittlungen zu den Hintergründen dauern an“, sagte der Polizeisprecher. Während des Einsatzes bildete sich auf der Zoobrücke in Fahrtrichtung Kalk ein langer Stau. (ts)
http://www.ksta.de/innenstadt/hintergrun...6,32142046.html
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EHRENAMT IN BERLIN
Selbstmordgedanken bei Jugendlichen: Was tun?
von Saara von Alten
Hunderte Jugendliche nehmen sich in Deutschland jedes Jahr das Leben. Wie merkt man, dass es ernst wird – und was dann? Das Projekt U25 hilft jungen Menschen in Krisenmomenten.
Das letzte Mal hat sie ihren Bruder Mathias S.* durch Zufall in der U-Bahn getroffen. Er wirkte abweisend und musste schnell weiter. Drei Wochen später war er tot. Dass er Selbstmordgedanken hatte, davon merkte Nadine S. nichts. „Ich wusste, dass er in einer Lebenskrise stecke, sich unsicher war, mit dem was er tat“, sagt sie. Er hatte Versagensängste, Probleme im Studium und sei immer wieder schlecht drauf gewesen.
Für einen 23-Jährigen auf der Suche nach dem richtigen Ziel im Leben keine ungewöhnlichen Probleme, dachte sich Nadine. Immerhin ging er trotzdem weiter auf Partys und hatte einen großen Freundeskreis. Wie schlecht es ihm hinter der Fassade ging, erfuhr sie erst, nachdem es zu spät war.
Mathias S. ist einer von 600 jungen Menschen unter 25 Jahren, die sich jedes Jahr in Deutschland das Leben nehmen. Neben Verkehrsunfällen ist Selbstmord eine der häufigsten Todesursachen in dieser Altersgruppe. Insgesamt sterben deutschlandweit 10.000 Menschen pro Jahr an Suizid. Redet man über das Thema, merkt man erstaunt, wie viele Menschen damit Berührungspunkte haben. Viele haben erfahren, wie schwierig es ist, rechtzeitig an junge Menschen heran zu kommen, ihnen Hilfe anzubieten.
In Berlin beantworten 70 „Peers“ die Anfragen der Hilfesuchenden
Jugendliche würden oft keine offiziellen Beratungsstellen aufsuchen, sagt Christina Obermüller vom Caritasverband. Daher hat die Caritas 2013 das Projekt U25 ins Leben gerufen, eine E-Mail-Beratung für suizidgefährdete Jugendliche zwischen 13 und 25 Jahren. Ursprünglich gegründet wurde es 2002 vom Arbeitskreis Leben in Freiburg. „Bei den E-Mail-Kontakten ist die Hemmschwelle niedrig, da die Hilfesuchenden anonym bleiben“, sagt Projektleiterin Obermüller. Sie können sich einen Chatnamen geben und die IP-Adressen werden nicht zurückverfolgt. Deutschlandweit hat das Projekt 126 junge ehrenamtliche Mitarbeiter. In Berlin beantworten 70 „Peers“, wie die Berater sich nennen, die Anfragen der Hilfesuchenden.
„Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Das macht alles keinen Sinn mehr“. Diese Sätze bekommt die 20-jährige Elena regelmäßig zu lesen. Seit vier Jahren ist sie als ehrenamtlichen Peer-Beraterin, sie macht auch ein Praktikum bei der Caritas und möchte später Soziale Arbeit studieren. Wie alle anderen Mitarbeiter bei U25 gibt sie nach außen nur ihren Vornamen bekannt, um nicht von Klienten erkannt zu werden. Dass die Mitarbeiter genauso alt wie die Hilfesuchenden sind, ist das besondere an der Onlineberatung. „Wir können uns in ihre Probleme hineinversetzten“, sagt Elena.
Das sei etwas anderes, als mit einem 20 Jahre älteren Arzt zu sprechen. Für ihre ehrenamtliche Tätigkeit nimmt sie sich jede Woche ein paar Stunden Zeit. Die E-Mails, die sie über die Internetseite u25-berlin.de erreichen, beantwortet sie am Schreibtisch zu Hause. Derzeit hat sie regelmäßigen Kontakt zu zwei bis vier Jugendlichen. Die Anzahl wechselt stetig. „Jeden Monat kommen etwa drei neue Anfragen hinzu“, sagt sie. Manchmal bleibt es bei einer Antwort, manchmal hält sie über Monate mit einer Person Kontakt. In ganz Deutschland nahmen im Jahr 2014 insgesamt 867 junge Menschen den Kontakt zu den Onlineberatern auf -alleine in Berlin gab es 70 Hilfesuchende.
Zukunftssorgen seien ein häufiges Thema
Manche jungen Männer und Frauen fühlen sich isoliert und einsam, werden in der Schule gemobbt oder wissen nicht, welchen Beruf sie ergreifen sollen. „Auf den Leuten lastet viel Druck“, meint Elena. Zukunftssorgen seien ein häufiges Thema. Einige der Ratsuchenden haben noch schwerere Lasten zu tragen – wie sexuellen Missbrauch oder andere traumatische Erlebnisse. Elena schreibt dann über Auswege aus Notlagen. Wenn sie merkt, dass der Betroffene offenbar an einer Depression leidet, Essstörungen oder eine psychische Erkrankung hat, leitet sie Adressen von Beratungsstellen weiter. Um den richtigen Ton bei ihren Klienten zu treffen, hat sie wie alle anderen ehrenamtlichen Berater des Projektes eine mehrmonatige Schulung absolviert.
Die meisten Anfragen, die bei der E-Mail-Beratung eingehen, kommen von jungen Mädchen. „Männer sind leider weniger kommunikativ“, sagt Obermüller. Vielleicht einer der Gründe, weshalb 70 Prozent der Suizide von Männern begangen werden. Frauen wollen hingegen mit einem Suizidversuch oft ein Alarmsignal senden. „Rund 80 Prozent der Selbsttötungen werden vorher angekündigt“, sagt die Caritas-Mitarbeiterin. Häufig werden Signale nicht ernst genug genommen. Und wer nachfragt, müsse auch damit rechnen, eine ehrliche Antwort zu bekommen. Danach müsse eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema erfolgen, vor der viele Leute zurück scheuen. Ein blöder Spruch, wie „und morgen scheint die Sonne wieder“, helfe niemanden weiter.
Ihr Bruder hatte eine Depression
Nadine M. ist sich sicher, dass eine gute medizinische Versorgung ihrem Bruder das Leben hätte retten können. Nach allem, was sie und ihre Familie im Nachhinein herausfinden konnten, litt ihr Bruder unter einer Depression. Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwächen, und er sagte immer wieder Verabredungen mit ihr immer ab. Alles Symptome, die sie erst nach seinem Tod besser zu deuten wusste. Dennoch hält sie es für zu einfach, den Selbstmord ihres Bruders oder den vieler anderer junger Menschen alleine mit der Diagnose einer Krankheit zu erklären.“ Wenn Suizid eine der häufigsten Todesursachen bei jungen Menschen ist, dann hat das auch etwas mit der Gesellschaft zu tun“, sagt sie. Ihr Bruder habe den Druck gespürt, dass aus ihm etwas werden muss. „Heute muss jeder erfolgreich sein, viel Geld verdienen, um nicht als Versager da zustehen“, sagt sie. Ein Leistungsanspruch, der mit einer Depression noch schwieriger zu erfüllen ist. Jeder Mensch habe einen Überlebensinstinkt, meint Obermüller. „Die Jugendlichen wollen nicht tot sein. Sie wollen aus ihrer jetzigen Situation raus und sehen den Suizid als einzigen Ausweg“. Da psychische Krankheiten ein immer noch stark besetztes Thema seien, schaffe es kaum jemand, ohne Scham darüber zu sprechen und sich Hilfe zu holen.
Elena machen die vielen positiven Verläufe ihrer Beratungs-„Brieffreundschaften“ Mut: „Danke, dass du da bist und mir geholfen hast“, liest sie da oft.
* Name von der Redaktion geändert
Auf der Seite http://www.u25-berlin.de befindet sich rechts ein „Help-Mail-Button“, von dem aus anonyme Nachrichten verschickt werden können. Innerhalb von 48 Stunden erreicht den Hilfesuchenden eine erste Antwort. Die Ehrenamtlichen kümmern sich so lange um ihre E-Mail-Kontakte, solange ihre Hilfe gesucht wird. Ebenso gratis und anonym berät der Verein http://www.jugendnotmail.de. Zudem gibt es für Angehörige und Betroffene, die anonym Hilfe suchen http://www.Neuhland.de. Es berät auch http://www.telefonseelsorge-berlin.de.
http://www.pnn.de/brandenburg-berlin/1017206/
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Suizid:Warum hast du dich umgebracht?
Suizid gilt heute als ein Akt der Selbstbestimmung. Doch über die Hinterbliebenen wird kaum gesprochen. Wie leben sie nach dem Verlust weiter?
Von Laura Díaz
24. Oktober 2015, 13:38 Uhr Erschienen in Christ & Welt 101 Kommentare
Gesellschaft, Suizid, Selbstmord, Suizid, Verlust, Depression
Von jedem Suizid sind auch Angehörige betroffen. Ihr Leid wird oft nicht gehört. © Jan Woitas dpa
Als Manuela* von Utes Tod erfährt, geht sie in das Badezimmer und wirft die Zahnbürste in den Mülleimer. "Die braucht sie ja jetzt nicht mehr." Das ist ihre erste Reaktion. "Ich war wie im Vakuum, wie in Trance. Alles erschien mir so surreal. Ich konnte es einfach nicht glauben. Ich konnte es nicht glauben. Warum? Warum hat sie es getan?"
Vor 19 Monaten nimmt sich die Lebensgefährtin von Manuela das Leben. Sie stürzt sich in einen Kanal und ertrinkt. 10.000 Menschen bringen sich in Deutschland jährlich um, mehr als zehnmal so viele versuchen es und überleben. Insgesamt sterben hierzulande mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Mord, Totschlag, illegale Drogen und Aids zusammen.
Mindestens sechs Angehörige sind, so wie Manuela, von einem Suizid unmittelbar betroffen, das sind 60.000 Hinterbliebene im Jahr. Hinter diesen ganzen Zahlen: Schicksale, die im Dunkeln bleiben. Verzweifelte Ehepartner, zerrüttete Familien, Trauernde, die sich alleingelassen fühlen. Über Selbsttötung wird gerade öffentlich viel gesprochen. Wenn Prominente wie der MDR-Intendant Udo Reiter oder der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf selbstbestimmt aus dem Leben scheiden, wie es dann immer heißt, analysieren Journalisten Motive.
Doch über die Schicksale der Hinterbliebenen spricht niemand, erst recht nicht, wenn die Toten keine bekannten Gesichter sind. Dabei sind die Menschen, die sich das Leben nehmen, meistens in ein soziales Umfeld eingebettet, sie sind umgeben von Freunden, von Familie, haben Kinder, Kollegen. Für diejenigen, die gehen, mag der Suizid ein Akt der Selbstbestimmung sein. Doch was ist mit denen, die bleiben, die nach dem Verlust einen Weg finden müssen, weiterzuleben? Gibt es für sie so etwas wie Selbstbestimmung oder bestimmt der Suizid alles?
Manuela hat sich oft gefragt, ob sie Utes Tod hätte verhindern können, ob sie Schuld trägt, ob sie versagt hat. Hätte sie merken müssen, dass Ute nicht mehr wollte? Immer wieder geht Manuela, 48, Mitarbeiterin einer Kommunikationsagentur, jeden Moment ihres Lebens mit Ute durch. "Ute kam einfach so in mein Leben reingeschneit", erzählt sie. "Ich lernte sie auf einer Feier kennen, und es hat sofort gefunkt. Plötzlich war sie da. Ute war so lebendig, sie hat jeden Raum mit ihrer Art eingenommen. Niemand konnte sich ihrem Charisma, ihrem Lachen entziehen."
Manuela stockt. Die blonden kinnlangen Haare fallen ihr ins Gesicht. Sie sitzt daheim, am Esstisch. An dem Esstisch, wo sie früher so oft mit Ute saß. Wenn sie vom ersten Tag mit ihrer Lebensgefährtin spricht, kommt ihr auch der letzte in den Sinn. Dieser eine Freitag. Das letzte Gespräch, die letzte Berührung, der letzte innige Blick. Sie hatte gespürt, dass Ute in letzter Zeit unglücklich war.
Ute hatte angefangen zu trinken, ihr Restaurant lief schlecht. "Du tust dir doch nichts an?", sagt Manuela eines Abends auf dem Balkon zu ihr. Ute zieht an ihrer Zigarette, wiegelt ab. "Das mache ich nicht, mein Schatz." Am nächsten Morgen hat Manuela einen Arzttermin, sie zögert. "Soll ich lieber hierbleiben?", fragt sie ihre Lebensgefährtin. Nein, nein, antwortet Ute wieder, geh ruhig. "Na gut, ich beeile mich. Bis später." – "Ja, bis später." Manuela verlässt das Haus mit einem unguten Gefühl. Wenige Stunden später fährt Ute zum Kanal. Sie stirbt mit 49 Jahren.
Manuela ist fassungslos, bis heute. Wieso hat sie die Vorzeichen bei ihrer Lebenspartnerin nicht rechtzeitig gesehen? Und auch der Partnerin macht sie Vorwürfe: Wie konnte Ute einfach so gehen? Sie alleinlassen?
Zweieinhalb Jahre waren die beiden zusammen. Ute war die erste Frau, mit der Manuela eine Beziehung einging. Vorher gab es nur Männer. Intensiv sei die Partnerschaft gewesen, aufregend, schön, neu. Nach Utes Tod ist nichts mehr aufregend schön. Diese Einsamkeit, der Schmerz, die Schuldfrage.
Der Suizid ihrer Lebensgefährtin macht ihr zu schaffen, nein, er zermürbt sie. Manuela kann anfangs nicht alleine zu Hause zu sein. Zu Hause, in der lichtdurchfluteten Wohnung mit dem großen Wohnzimmer und der vielen Kunst an der Wand. Denn überall lauern Erinnerungen. Erinnerungen an Ute. "Hier hat sie immer ihren Schlüssel hingehängt." Manuela zeigt auf einen Haken im Flur. Sie trägt eine weiße Bluse, enge Jeans, markanten Schmuck. Eine attraktive Frau.
http://www.zeit.de/2015/43/selbstmord-su...-hinterbliebene
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KRANKHEITEN
Suizid und Freitod
Todesangst und Todessehnsucht. Menschen mit Suizid-Gedanken benötigen schnelle therapeutische Hilfe.
Suizid setzt sich aus den lateinischen Wörtern sui, also selbst, und caedere, Töten, zusammen, das heißt Selbsttötung – negativ Selbstmord, positiv Freitod. Es bedeutet, das eigene Leben selbst zu beenden. Meist ist der aktive Suizid gemeint, in dem ich mich aufhänge, erschieße, Gift nehme oder die Pulsadern aufschneide. Suizid kann aber auch passiv erfolgen, indem ich zum Beispiel nicht mehr esse, trinke oder das Leben erhaltende Medikamente einstelle.
Eine suizidale Handlung, die nicht erfolgreich ist, bei der ich also überlebe, heißt Suizidversuch. Diese sind weit häufiger als vollendete Selbsttötungen. Ist jemand in Gefahr, Suizid zu begehen, sprechen wir von Suizidalität.
Ein Fall für die Medizin?
Suizidalität kann ein Fall sein für die Medizin – muss es aber nicht. Geistig klare Menschen, die ihren Zustand bewusst reflektieren und nicht mehr leben wollen, gehen die Medizin, salopp gesagt, nichts an. Anders sieht es aus, wenn die Gefahr der Selbsttötung aus einer psychischen Störung resultiert.
Bestimmte psychische Auffälligkeiten bergen ein hohes Risiko, sich selbst zu töten. Dazu gehören: Die bipolare Störung, das Borderline-Syndrom, klinische Depressionen und Formen der Schizophrenie. Auch Krankheiten, die mit starkem Selbsthass verbunden sind oder daraus resultieren, wie Ess- und Brechsucht, können Warnzeichen für einen sich anbahnenden Selbstmordversuch sein.
Fortschreitende Krankheiten, bei denen der Patient einen immer unerträglicheren Zustand vor Augen hat wie multiple Sklerose oder Muskelschwund können dazu führen, das Leben vorzeitig zu beenden. Das gilt auch für Krankheiten, die mit dem Verlust der geistigen Zurechnungsfähigkeit einher gehen wie beginnende Demenz oder Alzheimer. Hier kann der Entschluss reifen, ein Ende zu setzen, solange der Betroffene noch klar denken kann.
Bei psychisch Kranken und anderen Menschen, denen in der Situation keine volle Mündigkeit über ihre Handlung zugestanden werden kann, besteht eine Fürsorgepflicht. Das gilt auch für Kinder, und teilweise für Drogen- und Alkoholkranke.
Suizid ist aber nicht allein Thema der Medizin, sondern auch der Rechtswissenschaft, der Psychologie, Soziologie, der Theologie und der Philosophie. Die Suizidologie widmet sich der Selbsttötung vor allem aus Sicht der psychiatrischen Medizin.
Suizidalität
Ein Suizid betrifft nicht nur den, der den Akt begeht, sondern auch sein Umfeld: Eltern, Freunde oder Mitschüler. Diese brauchen oft therapeutische Hilfe. Die Trauerarbeit dauert bisweilen Jahre, oft sind die Hinterbliebenen traumatisiert. Wer professionell mit Selbsttötung konfrontiert ist, zum Beispiel Pfleger, Ärzte oder Rettungssanitäter, braucht ebenfalls Unterstützung.
Insbesondere bei Jugendlichen kann ein Suizid (sogar ein fiktiver) einen Sog auslösen auf Freunde und Fremde, die sich real oder vermeintlich im Motiv des Verstorbenen wieder erkennen. Ein Beispiel ist Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“, der eine Selbstmordwelle auslöste.
Circa 10.000 Menschen bringen sich jährlich in Deutschland um, zwei Drittel davon sind Männer – zehn mal mehr Menschen unternehmen einen Suizidversuch, besonders häufig Frauen und Jugendliche.
Die hohe Rate von „nicht erfolgreichen“ Suiziden lässt vermuten, dass es sich meist um „Hilferufe“ handelt. Aber Vorsicht: Jeder Dritte unternimmt mindestens einen weiteren Selbstmordversuch, und jeder zehnte ist dabei erfolgreich.
Risikogruppen für einen Selbstmord sind vor allem Männer, alte Menschen, Jugendliche, Homosexuelle und junge Frauen mit Migrationshintergrund. Es gibt zwar eine Reihe Faktoren, die die Suizidalität pushen wie schwere Krankheiten, Zusammenbruch einer Lebensstruktur oder Gefängnis, auch alle diese Risikofaktoren zusammen erklären jedoch nicht den Suizid. Die Gefährdung ist vorher vorhanden.
Selbstmord, Suizid, Freitod?
Juristen sprechen meist von Selbsttötung, da diese eine Wertung unterlässt. Selbstmord ist oft stigmatisierend, insbesondere aus Kirchenkreisen, aber auch konkreter, denn Mord bedeutet das vorsätzliche (und geplante) Töten eines Menschen. Die Briten unterschieden zwischen self-homicide als moralisch vertretbare und self-murder als moralisch anstößige Selbsttötung.
Freitod bezeichnet die gleiche Handlung, rückt aber die Freiwilligkeit der Entscheidung in den Vordergrund. Ein Mensch bestimmt selbst und frei über seinen Tod.
Diese positive Wortschöpfung richtet sich vor allem gegen das Stigma, das die christlichen Kirchen der Selbsttötung auferlegen. Laut christlicher Lehre kommt alles Leben von Gott, und nur er hat das Recht, es zu nehmen. Fundamentalistische Christen, die den selbst bestimmten Tod durch eigene Hand als Sünde geißeln, sind auch die radikalsten Feinde von Abtreibungen und sogar Verhütung. Andere Menschen zu töten, wenn diese als Ungläubige gelten, erlaubt diese Lehre aber durchaus.
Der Kirchenkritiker Friedrich Nietzsche verherrlichte hingegen den „freien Tod zur rechten Zeit.“ Der Philosoph Sokrates befürwortete nicht nur die Selbsttötung, sondern brachte sich auch selbst um, nachdem das Gericht ihn zum Tode verurteilt hatte, und er einen Becher mit Schierlingsgift trank, obwohl er hätte fliehen können.
Psychische Krankheiten
Heute gelten psychische Erkrankungen als häufigster Grund für einen Suizid; entweder ist die Krankheit selbst Ursache für die Tat, oder sie beeinflusst die Stimmungen, die einen Suizid unausweichlich erscheinen lassen. Manche Autoren halten sogar nur jede zehnte Selbsttötung als nicht durch eine psychische Störung ausgelöst.
Solche Zahlen sind jedoch äußerst kritikwürdig. Die Diagnose wird nämlich fast immer erst nach einem Suizidversuch oder vollendetem Suizid gestellt. Bei einem vollendeten Suizid können aber nur noch Freunde, Bekannte und Angehörige die Diagnose stützen, und die Erinnerung von Hinterbliebenen arbeitet nach dem Muster Sinngebung: Das Gehirn konstruiert also Geschehnisse, Verhalten oder Äußerungen des Toten als klare Hinweise auf das Ende, vermischt mit Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen – um sich selbst zu entlasten, spielt auch der Gedanke, dass der Verstorbene nicht bei Sinnen war, hinein. Bisweilen gab es zwar wirklich Signale, aber die meisten Erinnerungen interpretieren Bedeutungen in etwas hinein, was in der Situation keine Bedeutung hatte.
Bei Suizidversuchen sind die hohen Zahlen von „psychisch Gestörten“ ebenfalls problematisch. Wer einen Selbstmordversuch überlebte, macht nämlich in den seltensten Fällen so weiter wie in der Zeit zuvor. Der Überlebende ist meist traumatisiert, oder hat zumindest einen existentiellen Einschnitt hinter sich, nach dem er sein Leben ganz neu organisieren muss. Er ist also zumindest psychisch verwirrt.
Allerdings ist auch bei Betroffenen mit einer zuvor diagnostizierten Krankheit der Anteil der Selbsttötungen weit höher als bei Menschen ohne solche Störungen. Auch psychische Störungen, die nicht diagnostiziert sind, dürften in vielen Fällen zum Suizid führen.
Gerade bei Auslösern wie dem Verlust des Arbeitsplatzes, Beziehungskrisen oder finanziellen Katastrophen hilft ein genauer Blick auf den psychischen Zustand des Betroffenen. Nur sehr selten sind solche Faktoren allein die Ursache.
Psychische Probleme verweben sich oft mit äußeren Triggern: Vielleicht litt der Verstorbene am Borderline-Syndrom und setzte seine Partnerin so unter Druck, dass diese ihn verließ – und dann machte er seine wieder kehrenden Drohungen „Ich bringe mich um“ wahr; vielleicht liegt der Schuldenberg darin, dass der Selbstmörder in manischen Phasen Geld zum Fenster heraus warf; oder die prekäre soziale Situation machte den Betroffenen depressiv, doch die Neigung der Depression hatte er schon vorher.
Klinisch Depressive sehen keinen Sinn im Leben. Über allem liegt eine bleierne Schwere. Sie halten sich für wertlos und denken, sie seien eine Belastung für ihre Mitmenschen. Ihre Gedanken kreisen immer wieder um Tod und Selbsttötung und viele gehen diesen Schritt. Der Selbstmord von Robert Enke rückte die Depression aus ihrer Tabuzone einer Gesellschaft, die Winner-Typen verherrlicht.
Psychiater streiten sich, ob die so Leidenden zu „ihrem Glück gezwungen werden dürfen“. Menschen, die unter klinischen Depressionen leiden, sind nämlich zurechnungsfähig, im Unterschied zum Beispiel zu offenen Psychosen.
Die Frage ist, ob es legitim ist, einen Menschen, der an Depressionen leidet, und der sich, mit einer zwar abgrundtief negativen, aber klaren Sicht auf seine Umwelt, zum Selbstmord entscheidet, daran mit Zwang gehindert werden darf.
Generell handeln Fachleute, also Ärzte, Psychologen und Psychiater, nämlich fahrlässig, wenn sie als psychisch Kranke Eingestufte, die Selbsttötung ankündigen, nicht (!) in eine Psychiatrie einweisen – auch gegen deren ausdrücklichen Willen.
Die bipolare Störung ist die psychische Auffälligkeit mit der höchsten Selbstmordrate. Phasen grandiosen Rausches wechseln mit der Hoffnungslosigkeit der Depression. Wenn Bipolare nach der manischen Phase in die Depression fallen, haben sie häufig zuvor einen Scherbenhaufen hinterlassen: Schulden und zerstörte Beziehungen treiben die latente Suizidalität zusätzlich voran.
Auch in den stabilen Phasen wird ihnen schmerzhaft bewusst, dass sie die großartigen Fantasien ihrer Manie niemals umsetzen können, während ihnen die realen Möglichkeiten farblos erscheinen. Bekannt ist Ernest Hemmingway, der unter dieser Störung litt und sein Leben beendete, indem er eine Schrotflinte in den Mund steckte und abdrückte.
Für Menschen, die am Borderline-Syndrom leiden, ist die Suizidtendenz Teil ihrer Störung. Viele der davon Betroffenen richten Aggressionen gegen den eigenen Körper, und der Gedanke an den Tod spielt immer mit. Viele Betroffene selbst bezeichnen ihre Krankheit als Selbstmord auf Raten.
Ob das Spiel mit dem Selbstmord bei Borderlinern dazu dient, Andere zu manipulieren, damit sie sich um den Borderliner kümmern, ob der Borderliner einen Kick sucht, um seinen Körper zu spüren, so wie er auch Drogen missbraucht und Tabubrüche begeht, oder ob er es ernst meint – das lässt sich schwer auseinanderhalten, am wenigsten durch den Borderliner selbst.
Eine Betroffene aß zum Beispiel Eibennadeln, sie sprang mit einem Rucksack voll Steinen in einen See, sie legte sich vor einen Zug, um sich im letzten Moment wegzurollen, und sie biss sich in einer Klinik die Pulsadern auf.
Das „vor den Zug legen“ ließe sich als gefährliche Mutprobe wie in James Deans „denn sie wissen nicht, was sie tun“ interpretieren, die Pulsadern aufzubeißen könnte auch ein Mittel sein, die Ärzte zu erpressen. Diese Spiele können, auch das gehört zur Krankheit, aber genau so ernst gemeint sein, und viele Borderliner sterben durch Selbstmord – und hier ist der Begriff gerechtfertigt, denn sie können sich selbst nicht ertragen.
Dissozial Gestörte sind unfähig zur Empathie. Sie schüchtern Andere ein, lösen Konflikte mit Gewalt und wollen totale Kontrolle. Sie empfinden nicht nur kein Mitgefühl für Andere, sondern auch nicht für sich selbst. Gewalt bedeutet für sie Spaß, oft haben sie eine lange Karriere im Gefängnis hinter sich, in der sie nur lernten, ihre Brutalität zu perfektionieren.
Ohne sich oder Andere zu lieben, fehlt ihnen der Sinn im Leben. Dissoziale stellen einen hohen Anteil an Kapitalverbrechern wie Serienmördern. Aber viele mit dieser Persönlichkeitsstörung bringen sich auch selbst um.
Dissozial Gestörte bevorzugen dabei die harten Methoden. Klassisch für sie wäre ein (unpolitischer) Amoklauf, an dessen Ende sie sich selbst erschießen.
Der Hilferuf
Die Rate von Selbstmordversuchen ist sehr viel höher als die von vollendeten Selbsttötungen. In vielen Fällen steckt hinter dem vermeintlichen Suizidversuch ein bewusster oder unbewusster Ruf nach Hilfe.
Einige Methoden, sich umzubringen, wirken mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Wer sich vor einen Zug legt, oder sich mit einem Großkalibergewehr in den Mund schießt, der hat keine Rückfahrkarte in Reserve. Auch wer mit dem Auto in den Wald fährt und Kohlenmonoxid einleitet, rechnet selten damit, im letzten Moment gerettet zu werden.
Auf der anderen Seite des Spektrums steht die Frau, die mehrmals Medikamente in einer Dosis schluckt, die zwar lebensgefährlich, aber nicht notwendig tödlich ist – bei offener Badezimmertür und ihrem Ehemann im Wohnzimmer.
Das Signal lautet: Ich brauche Hilfe, kümmert euch um mich. Die Grenze zwischen Menschen, die wirklich nicht mehr weiter wissen und emotionaler Erpressung lässt sich nur im Einzelfall ziehen.
Manche vollendeten Selbstmorde sind solche Hilferufe, die aber schief gingen. Der Ehepartner kam zu spät, und die Dosis war doch tödlich.
Die Angehörigen stehen vor einem Dilemma. Wie bei den „Hunden, die bellen, aber nicht beißen“ werden sie vielleicht beim hundertsten „ich bringe mich um“, oder „wenn ich mich umbringe, bist du schuld“ den Kopf schütteln, doch eine Garantie, dass es sich um leere Worte handelt, gibt es nicht. Auch manche „Schauspieler“ nehmen sich am Ende wirklich das Leben. Selbst Experten können zwischen so genannten parasuizidalen Handlungen und gescheiterten Selbstmordversuchen kaum unterscheiden.
Diesen „Schauspielern“ stehen die Selbstmordkandidaten gegenüber, deren Hilferufe niemand hörte – ob real oder vermeintlich spielt für ihre Entscheidung keine Rolle. Dies sind oft sehr sensible Menschen, die Andere immer wieder subtil darauf aufmerksam machten, wie schlecht sie sich fühlen. Am Ende sehen sie keinen Ausweg mehr.
Jugendliche und junge Erwachsene
Die Pubertät und die Zeit zwischen 18 und Anfang 20, wenn junge Menschen das Elternhaus verlassen, wirken zwar im Rückblick als besonders aufregende Zeiten, sind aber auch Phasen der Unsicherheit, der chaotischen Gefühle und der Herausforderung, sich in der Welt zu orientieren, der sich manche nicht gewachsen fühlen.
Unter Jugendlichen ist Selbstmord in Deutschland die zweithäufigste Todesursache, Jugendliche verüben die meisten Selbstmordversuche, und Suizidgefahr bei jungen Menschen ist insofern unbedingt ernst zu nehmen.
Die wichtigsten Ansprechpartner für Jugendliche sind Menschen, denen sie vertrauen aus ihrem engsten Umfeld: Die Eltern, oder in kaputten Familien, Lehrer, Sozialarbeiter und Erzieher ebenso wie Freunde. Sätze wie „ich will nicht leben“, oder „hier ist kein Platz für mich“, sollten diese Vertrauenspersonen annehmen und ein Gespräch anbieten.
Verständnis ist für Jugendliche extrem wichtig. Ob Eltern, andere Erwachsene oder psychisch stabile Menschen die Probleme aus ihrer Sicht für leicht halten, spielt keine Rolle – wichtig ist,dass der Betroffene sie als überwältigend empfindet.
Eltern könnten den Faden aufnehmen, indem sie akzeptieren, dass für ihre Kinder die Probleme unlösbar erscheinen, zum Beispiel, indem sie sagen: „Ich verstehe, dass du Schwierigkeiten in der Schule und zu Hause hast, und dass du damit überfordert bist. Wenn du so nicht weiterleben kannst, dann lass uns sehen, wie wir die Situation ändern.“ Entscheidend ist das Gespräch selbst.
Wem suizidale Jugendliche ihre Absichten offenbaren, der sollte keine falsch verstandene Geheimniskrämerei betreiben. Suizid ist vielschichtig, und ein einziger Ansprechpartner kann die ihm zugrunde liegenden Probleme nicht in den Griff kriegen. Professionelle Berater sollten also unbedingt einbezogen werden; der unprofessionelle Vertraute darf auf keinen Fall eigene Deutungen geben, indem er versucht, den Gefährdeten umzustimmen, ihm erzählt, wie schön diese Welt ist etc. Er hilft, indem er zuhört. Ansonsten macht der Suizidale schnell die Schotten dicht.
Jugendliche wenden sich mit ihren Todeswünschen vor allem an Gleichaltrige, geschulte Berater, die im Team arbeiten und sich untereinander austauschen, sind für sie deshalb die besten Berater.
Die gesellschaftliche Entwicklung des Neoliberalismus fördert Suizidgedanken statt sie zu lindern. Jugendliche sind in der Schule einem extremen Leistungsdruck ausgesetzt und erfahren, dass sie nichts wert sind, wenn sie nicht zu den „Besten“ zählen.
Die Sozialforschung spricht von einer Generation von Egotaktikern, die früh lernen, ihr Ego möglichst profitabel zu platzieren. Dieser Euphemismus verschleiert, dass heute bereits Kinder wegen Stress-Symptomen in Therapie gehen, die vor 20 Jahren Managerkrankeit hießen, dass die suizidale Störung Borderline sogar die Symbolkultur einer Subkultur, der „Emos“ inspiriert, Krankheiten, die aus Leistungs- und Anpassungswahn entstehen wie Bulemie und Magersucht, immer mehr zunehmen, und dass die Selbstmordgedanken von Jugendlichen ebenso explodieren wie die Selbstmordversuche.
Das Mantra derjenigen, die es geschafft haben, geriert sich zur Bergpredigt des von allen fesseln befreiten Kapitalismus, und individualistisch ausgerichtete Psychologen als Prediger dieser antisozialen Ideologie verleugnen die sozialen Verhältnisse; folgerichtig beleuchten sie bei den Faktoren für Suizidalität unter Jugendlichen nur die Oberfläche: Rauschhaftes Trinken, Migrationshintergrund, ADHS-Diagnosen, Trennung der Eltern, vernachlässigte Erziehung oder Schulverweigerung.
Warum jemand die Schule verweigert, warum jemand trinkt, warum der Migrationshintergrund ein Trigger für Selbstmordgefahr sein kann, bleibt (gewollt?) hinter einem Schleier verborgen, und ist doch offen sichtlich.
Wer nämlich früh erfährt, dass Schule lediglich bedeutet, bis zum Erbrechen abrufbares Wissen in sich hinein zu stopfen (Schüler fanden den treffenden Begriff Bulemielernen), und sein Existenzrecht von den Zahlen auf dem Zeugnis abhängig zu machen, der hat beste Gründe, sich dem zu verweigern. Wenn er dann trinkt, weil er dieses Zwangssystem nicht ertragen kann, ist das folgerichtig. Wenn sich dann noch die Eltern trennen, und er durch „vernachlässigte Erziehung“, also das Fehlen außerschulischer Nachhilfe etc. im Leistungswahn nicht mehr mithalten kann, aber sich auch keine Alternativen außerhalb des Hamsterrads bieten, dann erscheint der Suizid vielleicht irgend wann als letzter Fluchtpunkt der Selbstbestimmung.
„Therapien“, die darauf abzielen, den passiv Widerständigen an das System anzupassen, negieren dessen Willen zur Selbstbestimmung. Freiräume, in denen der Jugendliche Kritik artikulieren kann, helfen ihm jedoch, seine „Todeswünsche“, die in Wirklichkeit Wünsche nach einem erfüllten Leben sind, positiv zu transformieren.
Der Affekt
Manche Selbstmorde geschiehen im Affekt und / oder in Psychosen, die wirken wie verstärkte Affekte, in denen jede Kontrolle aussetzt. Überlebende berichten von solchen Kurzschlusshandlungen.
Eine Frau sprang zum Beispiel aus dem achten Stock eines Krankenhauses – sie stand erstens unter Medikamenten und war zweitens in psychiatrischer Behandlung. Sie konnte sich zwar erinnern, dass sie in der Situation „nicht mehr wollte“, beschrieb den Prozess vom Fenster öffnen bis zum Aufprall aber als „wie in einer anderen Welt“, hatte diesen Beschluss also nicht geplant und sah das Überleben als Geschenk.
Auch Menschen, die keine psychiatrischen Symptome zeigen, begehen Selbstmordhandlungen, die sie später bereuen. Gefährdet sind vor allem psychisch labile Menschen, die impulsiv handeln statt Situationen zu analysieren und zu reflektieren.
Häufen sich bei ihnen persönliche Desaster, bietet sich die Selbsttötung als Notbremse an: Die Freundin trennt sich, das Studium scheitert oder eine Lebensstruktur endet. Der Betroffene sieht vor sich einen Berg von Problemen außerhalb und innerhalb von ihm selbst, den er Stück für Stück abtragen müsste. So sehen es jedenfalls Außenstehende.
Auch in weniger kritischen Situationen entzog er sich durch Flucht; er flüchtete in Liebschaften, in Drogen, oder er wechselte die Stadt. Jetzt wird die Angst, sich der Herausforderung zu stellen, übermächtig.
Solche Gefährdete mit einem labilen Charakter wollen nicht wirklich sterben. Sie sehen nur keinen Ausweg und stehen hilflos davor, eine Situation zu ändern. Unter allen Suizidalen bieten sie das größte Potenzial für eine Psychotherapie, die sie dabei unterstützt, Schritt für Schritt in die eigene Kraft zu vertrauen.
Im Idealfall setzt eine solche Therapie an, bevor Menschen mit einem brüchigen Nervengerüst den ersten Suizidversuch unternehmen, und der Betroffene lernt -im günstigsten Fall- sich seine Fluchtwege zu versperren und Probleme anzugehen.
Der politische Selbstmord
„Lieber tot als Sklave“ lautet ein alter Kampfruf der Bauern an der friesischen Nordseeküste. Der Tod durch eigene Hand, um sich dem Feind nicht auszuliefern, und die eigene Freiheit zu erhalten, hat eine lange Tradition und gilt kulturübergreifend als ehrenvolle Form, sich selbst zu töten.
Dieser Selbstmord ist in manchen Kulturen allerdings keine freie Entscheidung des Individuums: Im zweiten Weltkrieg flogen so genannte Kamikaze-Piloten japanische Flugzeuge als lebende Waffen gegen die Amerikaner. Ein Pilot, der abstürzte, überlebte in amerikanischer Gefangenschaft; er ging nie nach Japan zurück und erst fünfzig Jahre nach Kriegsende sprach er das erste Mal öffentlich von seiner Geschichte: Allein, weil er überlebt hatte und in Gefangenschaft geraten war, brachte er Schande über seine Familie. Dieser Zwang zum Selbstmord hat mit einem frei gewählten Tod ebenso wenig zu tun, wie das Sterben von Soldaten, die Offiziere als Kanonenfutter verheizen.
Japan kennt auch den Sepukku, eine grausame Art, sich selbst zu töten, um eine verlorene Ehre wiederherzustellen. Der „Ehrlose“ rammt sich dazu ein Schert in den Unterbauch und durchschneidet nach einem festen Ritual die inneren Organe.
Bei vielen Eliteeinheiten und Geheimdiensten ist die Zyankali-Pille fester Teil der Ausrüstung. Jeder, der für solche Organisationen arbeitet, ist bereit, sich zu töten, falls er dem Feind in die Hände fällt.
Auch manche Massenselbstmorde sind solche Kriegsakte. Weltgeschichte schrieben die Zeloten in der Bergfestung Masada. Die Festung galt als uneinnehmbar, und die Zeloten stellten den harten Kern des Widerstandes gegen die römischen Invasoren. Sie waren eingeschlossen, die Römer bauten raffinierte Maschinen, um die Festung einzunehmen, doch, als sie die Mauern überwanden, fanden sie nur Leichen. Die Zeloten hatten sich die Kehlen durchgeschnitten.
Die Zeloten schufen ein mächtiges Symbol. Herrschaft beruht in letzter Konsequenz auf der Macht, über Leben und Tod zu entscheiden. Wenn die Freiheit aber sogar wichtiger ist als das eigene Leben, verliert die Herrschaft ihre Macht. Diese Art des Freitods ist im engsten Sinne kein Selbstmord. Das individuelle Leben dessen, der sich tötet, wird ausgelöscht, aber die Idee, für die er steht, lebt gerade dadurch weiter. Wie freiwillig die Individuen in den Tod gingen, sei dahin gestellt, denn maßgeblich ist in solchen ausweglosen Situationen der Druck der Gruppe.
Auch die Gegenseite kannte indessen die politische Selbsttötung. Die Römer verherrlichten den Suizid aus ehrenwerten Motiven als „römischen Tod“, sie verlangten ihn sogar von hohen Militärs und Würdenträgern.
Der römische Feldherr, der sich ins Schwert stürzt, ist keine literarische Fiktion, sondern war eine verbreitete Praxis. Zum Beispiel begingen die römischen Offiziere, die gegen die germanischen Krieger in der Varusschlacht verloren, Selbstmord. Der galt jedoch nicht als ehrenhaft. Denn das Motiv war Angst, in Gefangenschaft zu geraten, und, zumindest bei Varus selbst, dem römischen Kaiser vor die Augen zu treten, der ihn vermutlich ebenfalls mit dem Tod bestraft hätte.
Indianische Kulturen sahen es als besondere Ehre von Kriegern an, sich für die Gruppe zu opfern. Ein alter Komantsche, der allein stehen blieb und sich den Feinden entgegen stellte, starb zwar nicht von eigener Hand, aber er beging eine Form von Selbstmord.
Bei den Inuit war es verbreitet, dass Alte und Kranke, die nicht mehr mit der Gruppe mitziehen konnten, ihrem Leben selbst ein Ende setzten.
Prävention
Suizid-Gefährdete in modernen Gesellschaften haben große Probleme, über ihre Suizidgedanken zu reden, sei es, weil sie sich dafür schämen sei es, weil sie Angst haben, als psychisch krank zu gelten, oder weil sie diese Gedanken ja gerade entwickeln, weil sie den Bezug zu anderen Menschen verloren und eine Mauer zwischen sich und ihren Mitmenschen sehen, oder aber, weil sie den Beschluss bereits gefasst haben. Oft fürchten sie, in die Psychiatrie zu kommen und so das letzte zu verlieren, was ihnen bleibt – ihre selbst bestimmte Entscheidung über ihr Leben.
Gerade in der Phase, wo sie ihren Tod bewusst planen, wirken Suizidale oft sehr klar. Menschen, die ihre Freunde zuvor als labil erlebten, um die sie sich „Sorgen machten“, scheinen ihr Leben auf einmal „im Griff zu haben“. Sie besuchen alte Freunde und führen mit diesen tief gehende Gespräche, oder sie suchen alte Liebschaften auf, um offene Fragen der Beziehung zu klären – Angehörige sind oft positiv überrascht. Bisweilen verschenken die Suizidalen wichtige Bücher oder Erinnerungsstücke.
Der „positive Lebenswandel“, der die Freunde so überrascht, ist jedoch ein Warnsignal. Der Betroffene hat sich entschieden. Die Probleme, die ihn belasteten, spielen keine Rolle mehr, weil er diese Welt bald verlassen wird; er klärt offene Fragen, um sich zu verabschieden. Suizidale suchen vor der vollendeten Tat häufiger Ärzte auf als gewöhnlich, die die Gefahr jedoch oft nicht erkennen.
Prävention ist schwierig, aber möglich. Dazu zählen vor allem unbürokratische Behandlungen, Fortbildungen für Lehrer, Pfleger, Ärzte und Therapeuten, um eine Suizidgefahr zu erkennen und ein offener Umgang in der Gesellschaft und den Medien mit dem Thema.
Suizidgefährdeten kann geholfen werden, wenn sie dies wollen. Die Schwelle dazu ist meist groß. Viele Suizidgefährdete betrachten die Selbstmordgedanken als das intimste, was sie haben. Sie sehen oft nicht ein, dass sie professionelle Hilfe benötigen oder ihnen damit geholfen werden kann. Am einfachsten ist es, sie zu überzeugen, wenn die Suizidgedanken dem Hilferuf entsprechen.
Die Behandlung richtet sich nach Problemlage. Kapituliert der Betroffene vor seiner Lebenssituation? Lebt er in einer Messie-Wohnung, weiß er nicht, wie und wo er beruflich seinen Platz finden soll? Dann hilft vielleicht betreutes Wohnen und das schrittweise Heranführen an praktische Aufgaben im Alltag, durch die er merkt, dass er diesen bewältigen kann.
Medien haben eine besondere Verantwortung. Nach dem Tod von Robert Enke gab es zum Beispiel eine Welle von Suiziden nach dem gleichen Muster. Medien, die sich der Verantwortung bewusst sind, sollten ebenso kritisch wie differenziert über die Ursachen von Suiziden berichten, ohne die Selbsttötung zu dämonisieren bzw. zu verherrlichen, aber auch zeigen, an wen sich Gefährdete wenden können und was es für Alternativen gibt.
Fast alle, die einen Suizidversuch unternehmen, waren in den Monaten davor in ärztlicher Behandlung, insbesondere beim Hausarzt. Jeder dritte Arzt wurde indessen von der Suizidhandlung überrascht. Nach dem Versuch sind so gut wie alle Suizidalen in irgendeiner Art von ärztlicher Behandlung, sei es eine Psychotherapie, eine Psychiatrie, eine internistische Intensivstation oder eine Reha-Klinik.
C.H. Reimer sieht ein Problem darin, dass Ärzte und Schwestern Suizidpatienten negativ gegenüber ständen. Sie trennten häufig immer noch zwischen ernsthaften Selbstmordversuchen, die sie respektieren und „Simulanten“, die sich wichtig machen wollen. Dabei sei der Umgang mit Suizidpatienten kein fester Bestandteil des Medizinstudiums und der Pflegeberufe. Ärzte delegierten die psychische Betreuung des Patienten oft auf die Fachleute, die Psychotherapeuten und Psychiater. Das sei aber gefährlich, weil der Suizidale vor allem mit „normalen“ Ärzten und Pflegern zu tun hätte, und auf den „rein medizinischen“ Umgang mit seinem Leid reagierte, indem er sich einigele.
Ärzte, Pfleger, Angehörige, Freunde und Kollegen reagieren auf den Selbstmordversuch mit Angst, die sich selbst oft nicht eingestehen: Sie fühlen sich überfordert, in ihnen nagen Schuldgefühle, die sie auf den Patienten übertragen, sie setzen sich mit ihrem eigenen Tod auseinander. Zudem weigern sich viele Überlebende, über ihren Selbstmordversuch zu sprechen; wenn es kein „Hilferuf“ war, und jemand anders sie gerettet hat, geschah die Rettung gegen ihren Willen. Ärzte und Pfleger fühlen sich dann vom Patienten abgelehnt und reagieren entsprechend.
Der Arzt muss erstens die Suizidalität erkennen und beurteilen. Das obliegt leider meist dem Hausarzt, der keinerlei Schulung dazu hat. Der Freiburger Psychiater Bochnik schätzt, dass Fehler in der Diagnose und Behandlung für 7000 Selbstmorde pro Jahr verantwortlich sind.
Phasen des Suizids
Folgende Phasen gehen in der Regel einem Suizid voraus:
In Phase 1 spielt der Suizidale mit Selbstmord als möglicher Konfliktlösung. Berühmte Selbstmörder oder Suizide im persönlichen Umfeld stärken diese Gedanken, ebenso aber Autoaggressionen.
Solche Gedankenspiele sind zum Beispiel bei Jugendlichen weit verbreitet, sei es als trotzige Selbstbehauptung „bevor ich mich anpasse, jage ich mir eine Kugel in den Kopf“, als schwarzromantische Fantasie „ich schneide mir im lauwarmen Wasser die Pulsadern auf und höre dazu meine Lieblings-CD“ – sei es als ultima ratio „einen Ausweg gibt es immer“.
Wenn sich „local heroes“ aus Jugendmilieus umbringen, die besonders unter sozialen und psychischen Problemen leiden, zum Beispiel in Heimen oder bei Straßenkindern, müssen alle Anstrengungen unternommen werden, auf niedrigster Schwelle Hilfe anzubieten.
Die Phase II kennzeichnet Ambivalenz. Vor- und Nachteile eines Suizids stehen im Wechselspiel. Der Betroffene kündigt bisweilen bereits eine Selbsttötung an „ich mach Schluss“, „ich will nicht leben…“ und guckt, wie sein Umfeld reagiert.
Besonders bei Teenagern werden solche Ankündigungen meist nicht ernst genommen, nach dem Motto „hör auf, dich selbst zu bemitleiden“. Diese Einschätzung ist fatal: 8 von 10 Selbstmördern kündigen ihren Suizid an, manchmal kurz davor, in einigen Fällen aber auch seit Jahren: Zum Beispiel sagte ein Mann mit 18, er wolle nicht älter als 34 werden, und an seinem 34. Geburtstag brachte er sich um.
Phase III ist die Entscheidung. Jetzt ist der Entschluss gefallen, entweder zu sterben oder zu leben. Diese Ruhephase ist trügerisch. Der Betroffene spricht nicht mehr über Selbstmord. Manchmal hat er mit dem Gedanken daran abgeschlossen hat; häufiger jedoch plant er seinen Abgang jetzt konkret. Angehörige, Freunde und Ärzte sollten jetzt unbedingt mit ihm darüber reden, warum er nicht mehr über Selbstmord spricht.
Wer sich bewusst für das Leben entschieden hat, redet meistens gerne darüber. Wer sich für den Tod entschieden hat, gibt das selten zu, sendet aber durch sein Verhalten eindeutige Signale: „Ist doch klar, oder?“, „warum soll ich darüber reden?“, „entweder man macht es oder man lässt es bleiben“, „die Entscheidung ist gefallen“, „es gibt kein Zurück“ …
Falls jemand möglicherweise in Suizidgefahr schwebt, ohne darüber zu reden, können Freunde, Angehörige und Ärzte ihn darauf behutsam ansprechen. Anzeichen sind zum Beispiel:
– er zieht sich von Freunden zurück
– er leidet unter Depressionen
– er verwickelt sich in Selbstzerstörungen, läuft bei Rot über die Ampel zwischen fahrende Autos, provoziert Gewalt gegen sich selbst, lässt die Kerzen brennen, während er in der Holzhütte schläft…
– in der Vergangenheit erlitt er mysteriöse „Unfälle“
– beschäftigt sich mit spirituellen Themen, die um das Jenseits, Selbstmord, Beerdigung etc. kreisen, ohne dies zuvor getan zu haben
– wirkt merkwürdig „kindlich“, sucht Orte seiner Vergangenheit auf, besucht Personen, mit denen er längst keinen Kontakt mehr hatte…
Die Phasen der Suizidalität laufen nicht notwendig bewusst: Oft stößt der Gefährdete in seinen Nachtträumen und Tagesfantasien immer wieder auf bizarre Todesarten, Nachrichten über Selbstmörder ziehen ihn magisch an; dann verdichten sich diese Bilder seines Unbewussten, entwickeln ein Muster, das andere, das Leben bejahende Muster ersetzt – und die Konstruktionen des Unbewussten erscheinen dem Betroffenen immer mehr als die eine Wirklichkeit.
Besondere Aufmerksamkeit gilt, wenn der Betroffene zuvor bereits parasuizidal handelte, damit sind „misssglückte Selbstmordversuche“ gemeint, die Selbstmord zitierten, aber nicht lethal enden sollten. Das alles sind Appelle, sich um sein Problem zu kümmern – eine nonverbale Kommunikation.
Besondere Risikofaktoren sind:
– Lebenskrisen bei Krisenanfälligen
– suizidale Entwicklung
– präsuizidales Syndrom
– Depressionen
– Alkoholismus, Drogen- und Medikamentsucht
– Alter und Vereinsamung
– Suizidankündigungen- und versuche
Fragen, die an den möglichen Suizidkandidaten gestellt werden können, sind:
Hat der Betroffene versucht, sich das Leben zu nehmen? Hat er es schon vorbereitet? Hat er Zwangsgedanken an Selbstmord? Unterdrückt er Aggressionen gegen bestimmte Personen? Erlebte er Krisen, die er nicht verarbeitet hat? Ist er traumatisiert? Hat er seine Kontakte zu anderen Menschen reduziert?
Hinterbliebene eines Suizidalen, dem sie halfen, der sich aber doch tötete, sollten ihre Möglichkeiten im Nachhinein nicht überschätzen: Wer sich bewusst entscheidet, von eigener Hand zu sterben, der wird es irgendwann tun. Wenn er bei klarem Verstand war, ist der letzte Respekt ihm gegenüber, seine Entscheidung zu akzeptieren. Vor einem Suizid schützt nur die Entscheidung für das Leben. (Dr. Utz Anhalt)
http://www.heilpraxisnet.de/krankheiten/suizid-freitod/
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18.12.2015
Suizid mit der Dienstwaffe
Krisen, Krankheiten und belastende Einsätze: Jedes Jahr begehen im Schnitt sechs Polizeibeamte in Bayern Selbstmord
In Deutschland gehen jährlich rund 10 000 Menschen freiwillig in den Tod – mehr als durch Verkehrsunfälle, Verbrechen und Drogen. Polizisten sind dabei besonders gefährdet. Im Vergleich zur Normalbevölkerung sind die Selbstmordraten bei ihnen fast doppelt so hoch: 50 Beamte in Deutschland wählen jedes Jahr den Freitod. Das trifft vor allem auf männliche Berufsanfänger zu: Nach Angaben der Gewerkschaft der Polizei (GdP) werden nur vier Prozent der Suizide von Beamtinnen begangen. Peter Paul Gantzer und Paul Wengert (beide SPD) wollten daher von der Staatsregierung wissen, wie viele Suizide es in Bayern gab und wie die Präventionsmaßnahmen aussehen.
Das Innenministerium schreibt in seiner Antwort, seit 2011 hätten sich im Freistaat 30 Vollzugsbeamte das Leben genommen. Besonders hoch war die Zahl im Jahr 2013 mit zehn Todesfällen. Doch allein in diesem Jahr lag die Zahl in der ersten Jahreshälfte bereits bei vier Personen. In 23 der insgesamt 30 Fällen wurde der Suizid mit der Dienstwaffe begangen – nicht selten direkt im Dienstgebäude.
So verwundert es nicht, wenn Polizisten, Soldaten und Justizvollzugsbeamte wegen ihrer Waffen als besondere Risikogruppen gelten. Dennoch ist das Thema bisher kaum wissenschaftlich untersucht: Es gibt nur sehr wenige Erhebungen und kaum Studien. Die meisten Erkenntnisse gibt es in den USA, wo Polizisten noch häufiger Selbstmord begehen.
Im Rahmen der kriminalpolizeilichen Ermittlungen und Analyse der Fälle durch den Zentralen Psychologischen Dienst der bayerischen Polizei (ZDP, siehe Info) werden anschließend etwaige vorhandene Abschiedsbriefe ausgewertet und falls möglich Angehörige, Freunde und Kollegen zu den möglichen Motiven befragt. „Dabei wurden Schwierigkeiten im persönlichen Umfeld der Suizidenten wie zum Beispiel Beziehungsprobleme, psychische Probleme, physische Erkrankungen, berufliche Krisen, finanzielle Probleme oder schwere Krankheiten bekannt“, erklärt das Ministerium von Joachim Herrmann (CSU).
Jedoch ließen auch die Abschiedsbriefe die Motive nur in den seltensten Fällen klar erkennen, weshalb lediglich eine Annäherung und keine fundierte wissenschaftliche Aussage möglich sei. Dennoch gehöre die Suizidprävention zu den zentralen Aufgaben bei der Polizei.
Der ZDP leistet laut Ministerium im Rahmen der psychosozialen Versorgung Krisenintervention bei psychischen Erkrankungen, persönlichen Krisen oder belastenden Einsätzen mit Schusswaffengebrauch. Als weitere Maßnahme gebe es seit 2003 ein polizeiinternes Netzwerk (PIN) zur Hilfeleistung in akuten Lebenskrisen und den Polizeilichen Sozialdienst (PSD) zur psychosozialen Unterstützung. Darüber hinaus ständen die bei der Polizei tätigen Diplom-Sozialpädagogen mit ihren Betreuungsnetzen als Ansprechpartner für die Beschäftigten vor Ort zur Verfügung. Nicht zuletzt sei das Thema Suizidprävention auch Thema im Rahmen der Aus- und Fortbildung.
„Die laufenden präventiven Maßnahmen als auch die Prävention im Rahmen der Aus- und Fortbildung sind wichtig und richtig“, sagt SPD-Mann Wengert der Staatszeitung. Angesichts der 40 000 Polizeibeamten in Bayern sei die Zahl von durchschnittlich sechs Suiziden pro Jahr jedoch „nicht alarmierend“, zumal der Zugang zu einer Waffe sehr leicht sei. „Das zeigt auch der Anteil von drei Vierteln der Selbsttötungen mit der Dienstwaffe.“
In einem Bericht der Polizeigewerkschaft kritisiert hingegen ein Insider, das Thema werde in falsche Pietät gehüllt. Keine Einrichtung sei daran interessiert, mögliche Fehlentwicklungen in den eigenen Reihen nach Außen zu dokumentieren. „Seit Jahren werden die entsprechenden Meldungen in den Innenministerien abgeheftet und verschwinden in den Akten.“ (David Lohmann)
INFO: Der Zentrale Psychologische Dienst (ZPD)
Der Zentrale Psychologische Dienst (ZPD) des Münchner Polizeipräsidiums kümmert sich um die so genannte psychologische Einsatzunterstützung für Polizeibeamte in ganz Bayern. Dazu gehören beispielsweise Suiziddrohungen, Erpressungsversuche, Geiselnahmen oder Großdemonstrationen.
Der Sitz im Herzen Münchens ist kein Zufall. Die Schwabinger Krawalle von 1962 waren das Erweckungserlebnis für die psychologische Polizeiarbeit in Deutschland. Bei den massiven Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei wurde klar, dass die Beamten durch den veränderten Zeitgeist mit ihren Maßnahmen an ihre Grenzen stießen. Daher wurde damals die Polizeipsychologie grundlegend geändert. Zwar war das Konzept aus heutiger Sicht noch nicht ganz ausgereift, doch immerhin trugen die Beamten zum Beispiel bei Musikveranstaltungen keine Waffen mehr.
In den folgenden Jahren waren Polizeipsychologen weiter stark gefragt: 1972 beim Olympiaattentat und in den Achtzigerjahren bei der Friedensbewegung, wo die ZPD den Beamten Verhaltensempfehlungen gab. Um den in der Folgezeit vermehrt aufkommenden Banküberfällen mit Geiselnahmen Herr zu werden, wurde 1990 das Seminarprogramm Polizeiliches-Antistress-Kommunikations- Einsatzbewältigungs- Training (PAKET) eingeführt. Dieses müssen bis heute alle Polizeibeamte aus ganz Bayern durchlaufen. (LOH)
https://www.bayerische-staatszeitung.de/...ienstwaffe.html
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Suizid-Serie an Bundeswehr-Uni
Neubiberg - Drei Studenten der Bundeswehr-Universität München haben sich innerhalb von sechs Wochen umgebracht. Warum, das weiß keiner. Über ein großes, trauriges Rätsel.
Die Flaggen am Campus der Bundeswehr Uni München in Neubiberg sind Ende vergangenen Jahres mehrmals auf Halbmast gehangen. Die Bundeswehr veranlasst Trauerbeflaggung zum Beispiel dann, wenn Soldaten im Auslandseinsatz verunglücken. An der Uni in Neubiberg sind dagegen Soldaten im inneren Kampf mit sich selbst gefallen.
Es gibt ein Rätsel an der Bundeswehr-Uni, das derzeit viele Dozenten, Studenten und freilich auch die Eltern und Freunde der Opfer beschäftigt: Drei Studenten haben sich 2015 nacheinander im November und Dezember umgebracht. Warum, das weiß keiner. Alle drei Suizide ereigneten sich innerhalb von sechs Wochen. Die drei Kommilitonen kannten sich nicht. Sie hatten keine gemeinsame Vorlesung. Sie studierten unterschiedliche Fächer und sie standen an unterschiedlichen Etappen ihres Studiums. Barbara Hepp, die evangelische Militärseelsorgerin der Uni, sagt: „Alle drei waren völlig unabhängig voneinander. Und keiner war in psychologischer Behandlung.“
"Alle waren schockiert"
Rund 2800 junge Menschen studieren in Neubiberg. Die Bundeswehr-Uni ist eine Campus-Uni. Viele Studenten wohnen direkt vor Ort. Die Selbstmorde sprechen sich schnell herum. Auch die Universität geht damit offen um. Es gibt jeweils eine Trauerfeier, an der Studenten und Dozenten teilnehmen dürfen. „Alle waren schockiert“, sagt eine Sprecherin des Stundentischen Konvents.
Rund 30 Prozent aller Bundeswehr-Studenten fallen durch das Studium. Wie der Spiegel berichtet, hätten Eltern und einige Dozenten den hohen Druck, der durch das in Trimester geteilte Intensivstudium an der Bundeswehr Uni entstehe, für die Verzweiflung der jungen Männer mit verantwortlich gemacht. Universitäts-Pressesprecher Michael Brauns findet diese These „äußerst gewagt“, wie er sagt. Schließlich gebe es dieses Studiensystem seit 1973. Und eine auffällige Häufung von Suiziden in den mehr als 40 Jahren sei ihm nicht bekannt. „Es ist immer schwierig, bei Selbstmorden den einen Grund zu finden.“
An der Bundeswehr-Uni gibt es Trimester
An der Bundeswehr-Uni ist das Jahr in vier Trimester aufgeteilt. Davon sind drei Monate vorlesungsfrei, welche die Studenten für Urlaub oder Praktika nutzen. Ansonsten stehen am Ende eines Trimesters Klausuren an. Wer dreimal eine Prüfung nicht besteht, muss sein Studium beenden und scheidet damit aus der Bundeswehr aus. Wer an der Uni scheitert, verliert also auch einen Beruf, für den er sich 13 Jahre verpflichtet hat. „Das Studium ist schon belastend, aber durchaus machbar“, sagt die Studentenvertreterin.
Aussagen von Studenten zufolge ist die Betreuung während des Studiums gut. Es gibt eine psychologische Studienberatung, sogenanntes Peer-Coaching, bei dem Studenten sich untereinander helfen, und zwei Militärseelsorger, die rund um die Uhr über einen Notdienst erreichbar sind. Die Sprecherin des Studentischen Konvents sagt, die Uni bietet vieles, was es den Studenten leichter mache. „Ich glaube nicht, dass das Angebot das Problem ist, sondern dass die Betroffenen es nicht wahrnehmen.“
Die Uni plant, einen Allgemeinen Beirat zu gründen
Auch Barbara Hepp kann nur mutmaßen. Sie spricht von einem „Nachahmungseffekt“. Sie wisse lediglich aus dem Umfeld der drei Studenten, dass keiner im sozialen Umgang entsprechende Auffälligkeiten gezeigt habe. „Es kam für alle total überraschend.“ Die Universität will nun auf die Suizid-Serie reagieren. Das Studienfachbereichsleiter Detlev Adelmann teilte beim Neujahrsempfang am gestrigen Mittwoch mit, dass die Uni die Gründung eines Allgemeinen Beirates plane, der sich dem Problem annehmen solle.
Hilfe für Betroffene
Hilfe für Betroffene Die evangelische und katholische Telefonseelsorge ist 24/7 erreichbar unter Tel. 0800 / 111 01 11 (evangelisch) und 0800 / 111 02 22 (katholisch).
Rubriklistenbild: © Robert Brouczek
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"Noch nie habe ich mich so allein gefühlt"
Der Vater von Saskia Jungnikl hat sich das Leben genommen. Welchen Schmerz, Verlust und Trauer er seiner Tochter hinterlässt.
Protokoll: Lars Langenau
Saskia Jungnikl hat ein Buch über den Suizid ihres Vaters veröffentlicht: "Papa hat sich erschossen." Die 34-Jährige sagt: "Es ist keine Abrechnung mit meinem Vater. Ich wollte zeigen, wie hart der Einschnitt für mich war." Suizid sei in Deutschland ein Tabuthema, es gebe kaum Literatur von Angehörigen darüber. Obwohl sich weltweit alle 40 Sekunden ein Mensch selbst tötet, allein in Deutschland mehr als 10 000 im Jahr, davon unmittelbar betroffen sind pro Suizid mindestens drei bis fünf enge Angehörige. "Das sind zu viele, als dass man nicht darüber sprechen kann," sagt Jungnikl. Hier beschreibt sie, wie der Suizid des Vaters sie in eine schwere Krise gestürzt hat - und wie es ihr gelungen ist, den Schmerz zu überwinden.
Wenn Sie von Suizid-Gedanken betroffen sind, kontaktieren Sie die Telefonseelsorge (http://www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.
Am Anfang habe ich nur blind funktioniert
"Es sind die Gespräche, die sich verändert haben. Diese Gespräche, in denen jemand fragt: Was macht denn dein Vater? Seit dem 7. Juli 2008 muss ich darauf antworten: 'Er hat sich erschossen.' Es ist immer noch schwer für mich, das auszusprechen. Was weniger daran liegt, dass ich ein Problem damit habe, als vielmehr daran, dass ich mein Gegenüber ungern unvorbereitet in diese Situation bringen will. Nach solchen Sätzen geht es in einem Gespräch kaum mehr bergauf. Es gibt keine gängige Antwort auf ein 'Er hat sich das Hirn weggeschossen'.
Mein Vater war 67 Jahre alt, als er sich das Leben nahm. Damals war ich 27. Meine Mutter erreichte mich auf dem Weg zur Arbeit und sagte: 'Papa ist tot. Er hat sich erschossen.' Danach war nichts mehr wie vorher. Am Anfang habe ich nur blind funktioniert. Ganz langsam ist dann eingesickert, was hier gerade passiert.
Es gibt bis heute immer wieder Momente, in denen ich geradezu fassungslos bin, dass er das tatsächlich gemacht hat. Es ist eine selbstverständliche Annahme von mir, dass die Menschen um mich herum leben und nicht sterben wollen. Dass mein Vater, ein Mensch, den ich gut gekannt und sehr geliebt habe, sich getötet hat, hat dieses innere Prinzip umgedreht. Damit stand lange Zeit für mich alles Kopf.
Ich kann als Mensch schon akzeptieren, dass jemand sein Leben nach seinen eigenen Bedingungen beenden will. Aber als Tochter ist das anders. Als Tochter erwarte ich, dass meine Eltern so lange leben, wie es nur möglich ist. Und mein Vater war nicht krank. Es war nicht absehbar, dass er sich tötet. Ich denke, es wäre mir lieber gewesen, wenn er mich einbezogen hätte. Dann hätte ich ihm ein paar der wichtigen Fragen stellen können, die ich beantwortet brauche. Und ich hätte mich verabschieden können.
Als ich ihn das letzte Mal lebend gesehen habe, war ich zu Hause und bin ihm an der Küchentür in die Arme gerannt. Er hat mich festgehalten und mir gesagt, dass er mich liebt und gefragt, ob ich ihn auch liebe. Er hat sich von mir verabschiedet. Es ist schaurig, dass er damals wusste, dass wir uns nie wiedersehen werden. Und ich nicht.
Sein Suizid hat mir lange Zeit das Gefühl gegeben, dass mein Vater lieber gestorben ist als bei mir zu bleiben. Das hat mir viel von meinem Selbstwertgefühl, meinem Selbstbewusstsein genommen. Ich habe es als einen persönlichen Akt gegen mich empfunden, obwohl ich weiß, dass er mich sehr geliebt hat. Meine Mutter sagt, er hat im Moment vor seinem Tod nicht an uns gedacht, denn dann hätte er das nicht tun können. Aber die Frage, warum er tot ist, hat mich lange umgetrieben. Noch nie habe ich mich so alleine gefühlt wie in diesen Jahren nach seinem Tod. Ich dachte, ich werde niemandem je begreifbar machen können, was in mir vorgeht. Ich dachte, niemand kann das je verstehen. Suizid ist ein Tabu.
Ich habe begonnen, mich intensiv damit zu beschäftigen: Warum sich Menschen töten und wie Medien mit dem Thema umgehen. Und ich bin dabei immer wieder auf dieses Tabu gestoßen, auf diese Unsicherheit, die es Betroffenen so schwer macht, sich zu öffnen. Es ist wichtig, dass Medien einen Weg finden, darüber zu schreiben. Denn es ist erwiesen, dass nicht entscheidend ist, ob, sondern wie über einen Suizid berichtet wird. Die WHO nennt den Suizid eines der größten Gesundheitsprobleme weltweit.
Eine Antwort auf mein Warum
Dennoch herrscht eine so große Sprachlosigkeit und Stille. Sie schadet allen. Sie schadet jenen, die jemanden verloren haben, weil sie mit ihrer Fassungslosigkeit und ihrem Schmerz alleine bleiben. Und sie schadet auch denen, die daran denken, sich zu töten. Weil es ihnen damit so schwer gemacht wird, sich zu öffnen, darüber zu reden und Hilfe zu bekommen.
Die schönsten Nachrichten, die ich heute erhalte, kommen von Menschen, die sagen, sie hätten selbst auch an Suizid gedacht und dann hätten sie in meinem Buch gelesen, wie das für Angehörige ist. Und sich nun Hilfe gesucht, und mit ihrer Familie darüber geredet. Manche schreiben mir, dass sie sich Sätze in meinem Text anstreichen und damit zu Freunden gehen und sagen, schau mal, so fühle ich auch. Es ist leichter, eine Stille zu durchbrechen, wenn man schon ein paar Wörter hat. Weitere zu finden, ist dann ein bisschen leichter.
Mir selbst hat das Schreiben dabei geholfen, eine Antwort auf mein Warum zu kriegen. Ein Teil der Antwort ist sicher, dass vier Jahre vor meinem Vater mein Bruder gestorben ist. An einem geplatzten Blutgerinnsel im Kopf. Es ist kein Zufall, dass mein Vater sich in der Nacht erschossen hat, in der mein Bruder 30 Jahre alt geworden wäre.
Er konnte mit dem Verlust nicht umgehen. Das liegt auch daran, dass es ihm so schwer möglich war, sich zu öffnen. Mein Vater war sehr stark, er war hoch intelligent und feinfühlig. Als mein Bruder starb, hat er sich körperlich verändert: Seine Haare wurden schneeweiß, plötzlich ging er gebückt, seine Schritte wurden kurz und tapsig. Ihm hat Angst gemacht, dass er körperlich und geistig abbaut.
Vielleicht hätten wir vehementer darauf bestehen müssen, dass er sich Hilfe sucht. Andererseits haben wir das getan, und er hat es immer abgelehnt. Es reicht nicht, zu einem Depressiven zu gehen und zu sagen: Komm, ich helfe dir. Der sagt dann im Normalfall nicht: Oh, fein, danke. Man kann Hilfe nur anbieten, sie muss aber angenommen werden. Wir haben ihm oft gesagt, er soll doch mit einem Therapeuten reden. Das wollte er nicht. Mein Vater hat seine Sorgen und Probleme immer mit sich selbst ausgemacht. Für ihn war das Leben zum Schluss wohl wie ein immer enger werdender Tunnel, in dem es kein Licht mehr gab.
Es klingt merkwürdig, aber ich kann ihn auch verstehen. Zumindest ein Teil von mir kann es. Ein anderer kann es überhaupt nicht. Manchmal fragen mich Menschen, ob ich wütend auf ihn sei oder ob ich ihn liebe. Das finde ich komisch, weil man doch beides tun kann. Ich liebe ihn sehr, aber manchmal bin ich wütend auf ihn.
Mein Vater war mir 26 Jahre lang ein toller Vater. Dafür bin ich dankbar. Wir hatten in meiner Familie immer unglaublich viel Spaß und dieses glückliche Leben vor seinem Tod hat mir auch in dem schrecklichen Leben nach seinem Tod geholfen. Ich bin mir sicher, dass er nicht abschätzen konnte, wie schwer uns sein Tod treffen würde und wie hart wir alle daran arbeiten mussten, wieder in eine Normalität zu finden. Es hat meine Familie getroffen, aber auch viele andere Menschen, die ihn gekannt und gemocht haben. Ein Suizid zieht immer weitere Kreise als angenommen wird.
Dann hatte ich Sehnsucht
Trauer hat keine Deadline. Ich glaube, wir brauchen in unserer Gesellschaft einen neuen Umgang mit Trauer und Tod. Wir erwarten, dass ein trauernder Mensch nach ein paar Tagen wieder der Alte ist. Als ob man Trauer abhaken könnte. Dabei ist sie ein Grundgefühl, so wie Glück oder Angst. Mal ist es mehr, mal weniger.
Ich dachte anfangs, gut, ich halte mich an die Trauerphasen. Die habe ich auch durchlaufen, wie nach Lehrbuch, mal war ich traurig, dann wütend, dann hatte ich Sehnsucht. Aber nach der dritten Phase kam dann plötzlich wieder Phase eins. Trauer verläuft eben nicht nach Lehrbuch. Ich habe von mir selbst erwartet, dass ich die Trauer nur hinter mich bringen muss und dann geht es mir wieder gut. Dann bin ich wieder der Mensch, der ich vorher war. So etwas Dummes.
Es war ein wichtiger Moment, als ich verstanden habe, dass ich nie wieder der Mensch sein werde, der ich vorher war. Und dass das in Ordnung ist. Man kann manches nicht ungeschehen machen. Der Tod meines Vaters, der Tod meines Bruders, sie gehören zu meinem Leben. Sie bedeuten nicht, dass dieses Leben nicht trotzdem ein erfülltes und glückliches sein kann.
Vergangenes Jahr habe ich geheiratet. Den tollsten Mann überhaupt. Am Tag nach der Hochzeit bin ich aufgewacht und habe zu meinem Mann gesagt: 'Papa war wirklich nicht da.' Ich habe geweint, aber dann war es auch wieder gut. Es ist wichtig für mich, dass ich nun weiß, dass ich diese Momente der Traurigkeit haben kann - und sie wieder aufhören.
Nach Jahren wieder unerwartet traurig zu sein, kann einen unglaublich unter Druck setzen. Trauer kommt in Wellen. Man ist nicht durchgehend traurig, aber lange Zeit kann es einen unerwartet einholen. Es hat mir geholfen, darüber zu reden. Ich habe eine Gesprächstherapie gemacht. Die war unglaublich hilfreich dabei, vieles in mir neu zu ordnen. Vor allem auch, weil ich nach dem Suizid von der Vielzahl an Gefühlen einfach überfordert war.
Mein Bruder ist eines natürlichen Todes gestorben und wenn ich an ihn denke, dann ist da nur Trauer. Der Tod meines Vaters ist viel komplexer. Da ist Wut und Verzweiflung, Unsicherheit, Schuld, Angst. Irgendwann habe ich verstanden, dass ich meine eigene Zeit zur Verarbeitung brauche. Merklich besser ging es mir nach drei Jahren.
Manchmal merkt man erst, wie schlecht es einem ging, wenn es besser wird. Man gewöhnt sich an alles. Aber als ich zum ersten Mal wieder so einen Moment puren Glücks erlebt habe: Da war so viel Erleichterung. Ich habe mich auf eine Bank gesetzt und lange nur genossen, dass ich glücklich war. Als wäre etwas zu mir zurückgekommen, woran ich nicht mehr geglaubt habe. Es ist wichtig, nachsichtig mit sich zu sein.
Ich glaube, dass Offenheit Stärke erzeugt
Am meisten geholfen haben mir die Gespräche mit meiner Familie und meinen Freunden. Mit Leuten, zu denen ich Vertrauen habe, wo ich mich nicht verstecken musste. Und mir Zeit zu geben. Manchmal glaubt man, es wird nie wieder bergauf gehen, aber das tut es. Es dauert lange und es geht langsam, aber es gibt immer wieder Momente, in denen sich alles fügt. Zu reden, zeigt einem auch, dass man nicht alleine ist. Manchmal ist nichts hilfreicher als das Gefühl, verstanden zu werden.
Mit meinem Buch bin ich in die Öffentlichkeit gegangen, und natürlich habe ich mich vorher gefragt, wie sich das anfühlen wird. Aber alles aufzuschreiben, war auch eine Erleichterung. Ich glaube, dass Offenheit Stärke erzeugt. Einzugestehen, dass man schwache Momente hat, gibt einem viel zurück. Niemand lebt sein Leben und fühlt sich nicht manchmal alleine und schwach oder hat Angst. Das definiert aber nicht, wer wir sind. Es sind nur Momente, nur Seiten von uns.
Ich merke, dass es Menschen hilft, sich zu öffnen, wenn man selbst sich öffnet. Und positive Nachrichten von Menschen zu kriegen, denen ich helfen konnte, hilft auch wiederum mir sehr. Heute bin ich stabil, wobei ich merke, dass eine Unsicherheit geblieben ist. In seltenen Momenten packt mich eine Angst, dass plötzlich wieder etwas passieren kann. Es ist schwer für mich zu akzeptieren, dass ich nicht alles in der Hand habe.
Meine Welt hat sich zweimal ohne mein Verschulden oder Zutun völlig verändert, manchmal habe ich Angst davor, dass das wieder passiert. Dann versuche ich mich zu beruhigen und an die schönen Dinge in meinem Leben zu denken, und mich daran festzuhalten. Zum Glück habe ich davon eine Menge. Man muss sie nur erkennen."
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Saskia Jungnikl ist Journalistin und lebt in Hamburg.
http://www.sueddeutsche.de/leben/suizid-...uehlt-1.2799353
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Suizidgefahr steigt bei einer Gehirnerschütterung stark an
Mit einer Gehirnerschütterung steigt die Gefahr von Selbstmord. Das Suizid-Risiko ist mit dieser Kopfverletzung Forschern zufolge dreimal so hoch.
Wer eine Gehirnerschütterung hatte, bei dem steigt auch das Suizidrisiko. Laut einer kanadischen Studie sind Menschen, die an einer Gehirnerschütterung leiden gefährdeter, sich selbst umzubringen. Grund seien Veränderungen im physiologischen Bereich.
Gehirnerschütterung: Risiko für Selbstmord steigt
Laut der Studie der Universität von Toronto erhöhen Gehirnerschütterungen das Suizidrisiko um das Dreifache. Die Gefahr eines Suizids sei sogar noch größer, wenn der Betroffene am Wochenende eine Gehirnerschütterung erleidet. Bei Männern ist die Suizidrate demnach zudem doppelt so hoch wie bei Frauen.
Hauptverfasser der Studie ist Donald Redelmeier von der Universität Toronto. "Weil die Symptome wie Schwindel oder Kopfschmerzen nach einer Gehirnerschütterung rasch verschwinden, neigen die Ärzte dazu, deren verhängnisvolle Auswirkungen zu unterschätzen", bekräftigt Redelmeier. Eine stärkere Beachtung der Folgen könne deshalb Leben retten.
Suizid-Risiko steigt laut Forschern
Die Studienergebnisse, die kürzlich im Fachmagazin „Canadian Medical Association Journal“ veröffentlicht wurden, bestätigen frühere Untersuchungen. Laut diesen Studien könnten Gehirnerschütterungen dauerhafte physiologische Veränderungen auslösen. Diese seien für die Mediziner kaum zu erkennen. Laut AFP handelt es sich bei den Veränderungen um Störungen des zum Wohlbefinden beitragenden Botenstoffs Serotonin im Hormonhaushalt.
Laut der AFP-Meldung gebe es in Kanada jährlich 400.000 Fälle von Schädel-Hirn-Trauma, in den USA vier Millionen. In beiden Ländern gehört Suizid den Angaben zufolge zu den häufigsten Todesursachen. Die Studienautoren untersuchten die Krankengeschichte von 235.110 Patienten, über einen Zeitraum von 20 Jahren. Das Durchschnittsalter der Patienten aus dem Bundesstaat Ontario lag bei 41 Jahren. AZ/afp
http://www.augsburger-allgemeine.de/wiss...id36913017.html
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Auslöser für Suizid: Impulsivität und Aggressivität BERNADETTE REDL 14. Februar 2016, 10:00 212 POSTINGS Für die Prävention von Suizid braucht es eine therapeutische Allianz zwischen Arzt und Patient.
Im Klinikalltag fehlen oft fächerübergreifende Konzepte Wien – Hoffnungslosigkeit ist die grundsätzliche Bedingung für Suizid. Wer an einer psychischen Erkrankung leidet, hat ein erhöhtes Risiko, sich selbst das Leben zu nehmen.
Auch, weil dann die Hoffnungslosigkeit am größten ist. Wie Suizid und Depression zusammenhängen, war Thema des Symposiums "Depression und ihre 'Komorbiditäten'" des Anton Proksch Instituts in Wien.
"Das Tor zum Suizid sind Impulsivität und Aggressivität, nur dadurch ist ein Mensch so enthemmt, dass für ihn die grausame Handlung des Suizids möglich wird", erklärte Reinhold Fartacek, Leiter der Station für Suizidprävention der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Salzburg. Aber auch Alkoholmissbrauch, Rauchen, frühere Kopfverletzungen oder Traumatisierungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für Suizid, so Fartacek.
Männer nehmen sich weit häufiger das Leben als Frauen. Ein Grund dafür ist laut Fartacek etwa, dass die Lebenserwartung von Männern gestiegen ist – die Suizidrate ist im Alter höher.
Dass sie mehr Alkohol trinken als Frauen, ist ebenfalls eine mögliche Erklärung.
Verbesserungspotential im Klinikalltag Im Klinikalltag werde zu wenig bedacht, kritisiert der Mediziner, wie ein Patient, der bereits einen Suizidversuch hinter sich hat und deshalb stationär aufgenommen wurde, die Zeit nach seiner Entlassung gestalten wird.
Besonders hoch sei das Risiko für einen erneuten Suizidversuch in den ersten drei Monaten nach einem stationären Aufenthalt. Auch weil zwischen Entlassung und dem nächsten Termin beim niedergelassenen Psychotherapeut oft Wochen vergehen.
Fartacek kritisierte außerdem die unzureichende Zusammenarbeit der verschiedenen Fachbereiche. Im stationären Bereich brauche es mehr gemeinsame Konzepte: "Es darf nicht eine Station für Alkoholkranke und eine Station für Suizidgefährdete geben – diese zwei Dinge gehen oft Hand in Hand."
Warnsignale erkennen Wer mit suizidgefährdeten oder depressiven Menschen zu tun hat, sollte auf folgende Warnsignale achten: Verbale Andeutungen sich das Leben zu nehmen, Recherchen zu Selbstmord, verstärkte Wut, Rückzug aus dem sozialen Leben, häufige Angstzustände oder vermehrter Alkoholkonsum.
Die biologische Vorhersage von Suizid ist nur bedingt möglich, so der Mediziner. Etwa eine Dysfunktion der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse kann auf ein erhöhtes Suizidrisiko hindeuten. "De facto besteht aber bei vielen Patienten keine Gefahr, obwohl die HPA-Achse es vermuten lässt", erklärte Fartacek.
So komme es zu falsch positiven Befunden. Die Mitarbeiter der Station für Suizidprävention befragen ihre Patienten regelmäßig zu ihrer Ausprägung von Suizidalität, etwa mit der Frage: "Wie hoch war Ihre Suizidgefahr heute?"
Dieses Selbstmonitoring habe sich äußerst gut bewährt, sagte Fartacek. Ehrlicher sind Patienten allerdings beim Ausfüllen eines Fragebogens und nicht im persönlichen Gespräch. Medikamente zur Vorbeugung von Suizid Die Verabreichung von Lithium hat eine suizidpräventive Wirkung.
Wie genau das Medikament wirkt, wurde noch nicht ausreichend erforscht. Fest steht, dass Lithium auf biochemische Prozesse im Gehirn Einfluss nimmt. Wahrscheinlich wird bei manisch depressiven Menschen in Hochphasen der Noradrenalinüberschuss gesenkt und in depressiven Phasen der Serotoninspiegel angehoben.
Patienten, die sich einer solchen Therapie unterziehen, müssen regelmäßig zur Kontrolle erscheinen, um die Lithiumkonzentration im Blut überprüfen zu lassen. Fartacek merkte an, dass die suizidpräventive Wirkung des Medikaments auch auf die regelmäßigen Termine und Gespräche zurückzuführen sein könnte, und weniger auf die tatsächlichen Inhaltsstoffe von Lithium.
Notfallpan für den Ernstfall Die Station für Suizidprävention in Salzburg arbeitet gemeinsam mit jedem Patienten einen Notfallplan aus, der sie in der Zeit nach ihrer stationären Behandlung unterstützen soll. "Die Patienten brauchen eine klare Vereinbarung und nehmen diesen Notfallplan sehr ernst", sagte Fartacek.
"Den Plan tragen sie immer bei sich, auch um das Thema nicht aus den Augen zu verlieren." Er besteht aus den folgenden Punken: Warnsignale, auf die der Patient achten muss Vorgehen im Notfall Argumente dafür, warum der Patient trotz allem leben will
Notfall-Kontakt
Die Mitarbeiter der Uniklinik Salzburg versuchen rund um die Uhr für ihre Patienten da zu sein. Fartacek: "Wir versuchen eine gute Beziehung zu unseren Patienten aufzubauen und sie auf ihrem Weg zu begleiten. Suizidprävention geht allerdings nur gemeinsam, in therapeutischer Allianz". (Bernadette Redl, 14.2.2016) - derstandard.at/2000030322188/Ausloeser-fuer-Suizid-Impulsivitaet-und-Aggressivitaet
http://derstandard.at/2000030322188/Ausl...-Aggressivitaet
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Suizid im Kindsalter
Hast du das gewollt?
Benni war ein normaler Sechstklässler. Spitze in der Schule. Ein begeisterter Sportler. Bis seine Leiche gefunden wird. Aber können Kinder sich umbringen wollen?
22.04.2013, von KATRIN HUMMEL
Die Leere danach: Das für den Nachmittag anberaumte Fußballspiel seiner Mannschaft war abgesagt worden.
Manchmal sieht sie seine Kumpels, wie sie morgens zur Schule gehen. Dann denkt sie: Guck, da wärst du jetzt dabei. Manchmal geht auf der Straße ein Junge vor ihr, der die gleiche Größe und den gleichen blonden Kurzhaarschnitt hat. Dann zuckt sie zusammen. Manchmal sieht sie, wie eine Mutter ihr Kind schimpft, weil es sich im Supermarkt vor Wut auf den Boden geworfen hat. Dann denkt sie: Sei froh, dass du dein Kind noch hast.
Katrin Hummel
Autorin: Katrin Hummel, Redakteurin im Ressort „Leben“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Folgen:
Ihr eigener Junge ist jetzt woanders. Eines Tages, vier Monate nach seinem zwölften Geburtstag, hat er sich aufgehängt. Einfach so.
Britta und Markus Riedeler, 45 und 53 Jahre alt und seit 22 Jahren verheiratet, sitzen nebeneinander am Esstisch ihrer Wohnung in einer ostwestfälischen Kleinstadt. In Wirklichkeit heißen sie und auch Benni anders, doch um ihren zweiten Sohn zu schützen, möchten sie anonym blieben. Britta Riedeler ist blond, resolut und kräftig, manchmal fällt sie ihrem Mann ins Wort und verbessert ihn. Er ist dunkelhaarig, zurückhaltend und schmal, die Arme hält er die ganze Zeit vor dem Körper verschränkt, als wolle er sich wärmen.
Ein Leben vor dem Tod und eins danach
Vor ihnen stehen ein aufgeschnittener Marmorkuchen und ein gerahmtes Foto von Benni, das die Schule ihnen kurz nach seinem Tod geschickt hat, weil sie überall herumgefragt haben, ob noch irgendjemand Fotos von ihm hat. Er steht vor der Tafel und lächelt ein etwas verlegenes Lächeln, auf seinem grünen T-Shirt steht der Schriftzug Vacation in Wyoming. „Manche Leute verstehen nicht, dass wir hier noch Fotos von ihm haben“, sagt Britta Riedeler, „aber die können sich nicht vorstellen, wie das ist.“
Das ist nämlich so: Es gibt ein Leben vor diesem Moment und eins danach. Ein Leben, in dem du sagst: „Meine Kinder“, wenn du von Benni und seinem älteren Bruder Jan redest. Und eins, in dem du sagst: „Mein Sohn.“ Weil du nur noch einen hast. Ein Leben, in dem es selbstverständlich für dich ist, den Geruch und das Aussehen deines Kindes und den Klang seiner Stimme zu kennen. Und eines, in dem all das immer mehr verschwimmt. Eines, in dem dein und sein Körper unversehrt sind. Und eines, in dem er nicht mehr da ist und sein Tod sich für dich wie eine Wunde anfühlt. Mal ist der Schorf dick, mal ist er dünn. Aber verheilen tut sie nie. „Wenn du ein Kind verlierst, dann verlierst du einen Teil von dir selbst. Man sieht es dir nur nicht an“, sagt Markus Riedeler.
Benni war ein Spitzenschüler
In dem Leben vor diesem Moment war Benni ein zappeliger, impulsiver Sechstklässler mit unbändigem Ehrgeiz, dem alles gelang. Er war ein Spitzenschüler, seinem Bruder um Längen voraus. Er war gerade Kreismeister im Crosslauf geworden, spielte Handball im Verein und Fußball in der Kreisauswahl. Seine Eltern waren stolz.
In dem Moment danach hing Benni unter seinem Hochbett, mit seinem Schal um den Hals, Erbrochenem in der Luftröhre und entleerter Blase. Benni, hast du das wirklich so gewollt?
„Es war ein Unfall“, sagt seine Mutter. „Es war ein Suizid“, schrieb die Unfallversicherung. Das war für die Riedelers wie ein Schlag ins Gesicht. Können Kinder sich umbringen wollen? Wissen sie, was der Tod ist? Und konnte Benni wissen, was passieren würde, als er den Kopf in die Schlinge steckte?
Die wenigsten Kinder wollen wirklich sterben
“Es ist oft ein Graubereich“, sagt der Kinderpsychiater Daniel Radeloff, der gemeinsam mit seinem Kollegen Thomas Lempp an der Uniklinik in Frankfurt zum Thema Selbstmord bei Kindern und Jugendlichen forscht. Von seinem Schreibtisch aus blickt der junge Oberarzt auf den Spielplatz der Klinik, an der Wand hängt ein buntes Bild voller Herzchen, das ihm eine seiner jungen Patientinnen gemalt hat. „Die wenigsten Kinder wollen wirklich sterben. Es gibt aber Kinder, die wütend sind, weil sie ihren Willen nicht durchsetzen konnten. Wenn die dann zum Beispiel auf die Straße laufen und dabei umkommen, würde man das als Unfall bezeichnen. Kinder, die sich wirklich umbringen wollen, haben dagegen schwerwiegende Probleme, die nicht erkannt wurden, entweder psychiatrische oder familiäre.“
Wenn sie überleben, was sie getan haben, finden sich diese Kinder und Jugendlichen in der Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie ein. Etwa einen Neuzugang pro Woche verzeichnen Radeloff und seine Kollegen, und wenn auch nicht all diese Kinder schon einen Selbstmordversuch hinter sich haben, so ist ihnen doch gemeinsam, dass sie sich nicht glaubhaft davon distanzieren können, dass sie sich umbringen wollen. So wie jenes Mädchen, das auf einem Brückengeländer balancierte, um zu gucken, ob es fällt oder nicht. Oder jener Junge, der vor Wut aus dem Fenster im vierten Stock gesprungen ist. Warum tun Kinder das?
Es war ein ganz normaler Samstag
Der Tag, an dem Benni sich aufhängte, war ein ganz normaler Samstag. Am Vormittag hatte der Vater im Supermarkt gearbeitet, der sich unten im Haus befand und der Familie gehörte. Die Mutter war mit Bennis Bruder Jan bei einem Handballspiel gewesen, und Benni war in Socken runter zur Fleischtheke gelaufen und hatte eine Scheibe Wurst stibitzt. Mittags hatte er bei den Großeltern, die ebenfalls mit im Haus wohnten, Suppe gegessen. Das für den Nachmittag anberaumte Fußballspiel seiner Mannschaft war abgesagt worden, weil der Boden hart gefroren war. Der Vater hatte ein Mittagsschläfchen gehalten, weil sie abends noch zum Kegeln hatten gehen wollen, die Kinder hatten sich mit Softairpistolen beschossen und waren laut gewesen.
Da hatte die Mutter gerufen: „So, jetzt ist aber Feierabend, seid jetzt endlich leise!“, und sie auf ihre Zimmer geschickt. Jan hatte noch zu Benni gesagt: „Ich komm gleich rüber und hol mir eine CD.“ Und dann war es still gewesen. Bis zu dem Moment, als Jan sich eine Viertelstunde später die CD holen wollte und Benni fand und das Leben der Riedelers in ein Vorher und Nachher zerfiel.
„Ich will nicht mehr, ich bring mich jetzt um“
Vielleicht, denkt Britta Riedeler, wenn das Fußballspiel nicht abgesagt worden wäre. Dann hätte er sich austoben können. Vielleicht, denkt Markus Riedeler, wenn er weniger ehrgeizig gewesen wäre. Dann hätte er gelassener sein können. Vielleicht war ihm aber auch das Leben zu schwer. „Er war ein schwieriges Kind, ein richtiger Dickkopf“, sagt die Mutter, „ich wusste oft nicht, wie ich ihn behandeln oder ansprechen sollte. Immer war alles, was ich sagte, falsch.“ Der Vater meint: „Mit Sicherheit hatte er auch Frust und Ärger und das Gefühl: Ach, ist doch alles Scheiße.“
Ein paar Monate vor seinem Tod war Benni in seinen Bettkasten gekrochen und hatte gesagt: „Ich will nicht mehr, ich bring mich jetzt um.“ Weil er mal wieder wegen irgendwas sauer war. Britta Riedeler war schockiert und hat ihre Schwester zu Hilfe gerufen. Die hat ihm eindringlich erklärt, dass es ganz, ganz schlimm wäre, wenn er sich umbringen würde. Aber war das ein Indiz? „999 Leute sagen so was nur, der Tausendste probiert es aus“, sagt Markus Riedeler. Und der Hunderttausendste hat damit Erfolg. Etwa zwanzig Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 15 Jahren setzen ihrem Leben pro Jahr willentlich ein Ende - doppelt so viele Jungen wie Mädchen. Mit Beginn der Pubertät steigen die Zahlen rasant an, auf etwa 200 im Jahr: Bei den 15- bis 20-Jährigen ist Selbstmord die zweithäufigste Todesursache - hinter Unfällen und vor Krebs. Prinzipiell gilt: Je jünger ein Kind ist, umso unwahrscheinlicher ist es, dass es Selbstmord begeht.
Der Tod ist der letzte Ausweg
Also halten sich die Riedelers daran fest, dass Bennis Tod ein Unfall war. „Kinder, die sich vor den Zug werfen, die von Häusern springen, das finde ich gewollter“, sagt die Mutter. Aber ihr Benni? Der hatte doch eine schöne Kindheit und war voller Selbstbewusstsein. Mit fünf hatte er sich selbst das Lesen beigebracht, im Bett las er ihnen vor und vertauschte dabei b und d. Sie brachten ihm bei, wie man Canasta spielt, sie spielten Mastermind, Skat und Vier gewinnt. Und wenn sie abends im Bett gekuschelt haben, philosophierten sie so lange über die Sterne, bis alles in einer großen Kitzelei endete. Benni, wolltest du wirklich nicht mehr leben?
Unvorstellbar ist das für sie. Wenn er zusammen mit seinem Bruder einen Raum betrat, dann sahen die Leute zuerst ihn, weil er so strahlte. Benni, du hast dir den Tod doch nicht gewünscht, oder?
“Oft sind diese Kinder schwer verzweifelt, und niemand hört ihnen zu - quer durch alle gesellschaftlichen Schichten“, sagt der Kinderpsychiater Radeloff. Manche sind aber auch depressiv, manche wurden missbraucht, andere haben Eltern, die psychisch krank oder drogensüchtig sind. Auch wenn sich in einer Familie schon andere Personen umgebracht haben, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder diesen Weg gehen. Gemeinsam ist diesen Jungen und Mädchen eines: Sie sind am Ende ihrer Anpassungskräfte, der Tod scheint ihnen der letzte Ausweg.
War die Erziehung falsch?
Nichts von all dem traf nach Meinung der Riedelers auf Benni zu. Und so werden sie die Fragen in ihrem Kopf nicht mehr los. Ob sie ihn falsch erzogen haben. Ob sie antiautoritärer hätten sein müssen. Oder autoritärer. Sie vergleichen die Erziehungsstile anderer Familien mit ihrem eigenen, der eher so in der Mitte ist, „ohne Schläge, maximal ein Klaps auf den Po“, und sagen sich: „So ganz falsch kann das nicht gewesen sein.“ Bennis Bruder Jan ist „auf dem geraden Weg geblieben“ und macht ihnen Freude.
Daran denken sie, das gibt ihnen Kraft, wenn die Bilder von jenem Tag zurückkommen und sie einzuholen drohen, so dass ihre Gedanken ganz überschwemmt werden von dem, was ihr Leben für immer verändert hat. Wie Britta Riedeler den Schal ihres Jungen durchgeschnitten hat, wie sie instinktiv versuchte, ihn zu beatmen, obwohl sie das noch nie zuvor bei jemandem gemacht hatte. Wie die Sanitäter kamen und sie aus dem Zimmer geschickt haben, weil sie Angst hatten, dass sie zusammenbricht. Wie der Notarzt ewig nicht kam. Und wie sie auf dem Weg in die Klinik neben Benni saß und dieses Lied von Xavier Naidoo im Kopf hatte, das sie heute nicht mehr hören kann: „Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer.“
Neun Tage lag Benni noch im Koma
Neun Tage lang lag ihr Junge noch im Koma, abwechselnd saßen die Eltern an seinem Bett, und wenn er die Stille und den Anblick seines Kindes gar nicht mehr aushielt, flüsterte Markus Riedeler wieder und wieder: „Du bist doch stark, du kriegst das hin, du überlebst das.“ Bis die Ärzte Bennis Hirntod feststellten und die Riedelers in eine Organspende einwilligten. Damit wenigstens etwas von ihrem Jungen bleiben würde.
Ein paar Wochen nach der Beerdigung erhielten sie einen Brief, in dem stand, wer etwas von ihm bekommen hatte. Seine Nieren waren an zwei Erwachsene gegangen, die Leber an zwei Kinder, die sonst gestorben wären. Sie waren zwei und sechs Jahre alt. Britta Riedelers erster Gedanke war: „Zwei mal sechs ist zwölf. So alt, wie Benni geworden ist.“
http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/...t-12156606.html
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Selbstmord einer Freundin
Warum hast du dich umgebracht?
Ich habe eine gute Freundin durch einen Suizid verloren. Bis heute frage ich mich, was hätte ich tun sollen, und wie ich mit dem Verlust umgehen soll. Eine Spurensuche.
02.04.2016, von BETTINA RUBOW
„Andere nehmen doch auch ihre Pillen fürs Herz, du brauchst deine für die Psyche“, hatte ich sie ermahnt.
Da liegt sie nun in ihrem weißen Sarg, umgeben von üppigen Blumengebinden. Neben sich ein Foto aus besseren Tagen, strahlend schaut sie darauf aus, mit den leuchtenden Augen des schönsten Mädchens der Stadt. Die Trauerfeier – ihre Trauerfeier – spart nicht mit Lobpreisungen ihrer Person.
Ihr vorzügliches Abschneiden in Schule und Uni, ihre Promotion und Berufstätigkeit, ihre Heirat und vorbildliche Mutterschaft. Bei fast allem war ich dabei, Sabine und ich haben Wohnungen und Interessen geteilt – und einmal sogar einen Mann. Wir waren uns einig in den entscheidenden Dingen des Lebens – bis auf dieses Mal. Ihre Tat. Mit ihrem Suizid bin ich nicht einverstanden.
Bei der Trauerfeier erscheint der Suizid wie ein Bruch, aber auch als Ausweg. Sie hätte sich bewusst für das Ende entschieden, als ihr Leben unerträglich wurde. Die Tabletten hätten ihr den sechsten Sinn geraubt, daher hätte sie sie abgesetzt. Niemand hätte ihr helfen können – heißt es so.
Die meisten Überlebenden probieren es kein zweites Mal
Direkt nach der Feier und auch in vielen Gesprächen danach wird mir klar, dass ich diese Haltung nicht teile. Ich bin nicht der Meinung, dass niemand sie hätte retten können. Wir alle hätten es zumindest versuchen müssen.
Ich bin mir nicht sicher, ob sie es wirklich wieder probiert hätte, wie so viele meinen, vielleicht wäre sie ja glücklicher geworden danach, vielleicht hätte sie ihren Söhnen später erzählt, dass sie nicht sie selbst gewesen sei bei der Tat, aber jetzt umso froher, dass sie überlebt hatte. Wussten Sie, dass achtzig Prozent der Überlebenden eines Suizids es kein zweites Mal probieren?
Das ist meine Version der Geschichte. Und ich will sie erzählen, weil ich glaube, dass ich es beim nächsten Mal besser machen könnte. Oder vielleicht machen Sie es ja besser, falls Sie einmal in die Lage geraten, einer depressiven Freundin beizustehen. Dafür muss man sich allerdings mit der Depression und ihren Tücken befassen. Niemand weiß besser als ich, wie schwer das ist. Ständig hat man Angst davor, zu übergriffig zu sein. Und am Ende hat man das Gefühl, dass alles umsonst war.
Extrem gesunder Lebensstil war ein Alarmzeichen
Hat sie mir nicht noch am Küchentisch geschworen, nie wieder ihre Tabletten abzusetzen? Andere nehmen doch auch ihre Pillen fürs Herz, du brauchst halt deine für die Psyche, hatte ich sie ermahnt. Und warum war sie bloß so empfindlich geworden in den letzten Jahren? Nichts vertrug sie mehr, keine Laktose, kein Gluten, keine Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Früher hatte sie immer eine Witwe im Kühlschrank, jetzt war Alkohol tabu. Dieses total gesunde Leben, das sie führte – damit konnte ich wenig anfangen.
Als ich dann die Nachricht von ihrem Tod bekam, schimpfte ich: Und wozu das alles? Warum Faktor 50 fürs Gesicht und kein Champagner, wenn du dich eh umbringst? Jetzt weiß ich: Die Enge, in die sie sich selbst geschraubt hatte, war ein Nebenschauplatz im erbarmungslosen Feldzug der Depression. Das total gesunde Leben war ein Alarmzeichen gewesen.
Ich werfe ihr nichts vor. Ich habe ja selbst gesehen, wie sehr sie gelitten hat. Wie groß der Druck war. So groß, dass selbst ihre Kinder sie nicht in der Welt halten konnten. Sie hat ihnen - ohne es zu wollen - ein so schweres Paket mitgegeben. Suizid wird für ihre Jungs vielleicht später einmal eine Möglichkeit sein. Dabei ist Suizid keine Möglichkeit, sondern nur das Ende aller Möglichkeiten.
Sie war überzeugt, nichts würde ihr helfen können
Selbst die schwärzeste Phase im Leben geht wieder vorbei, und es gibt immer einen Ausweg. Das möchte ich ihren Söhnen unbedingt einmal sagen. Sie hat daran nicht mehr geglaubt. Sie war überzeugt, dass nichts ihr würde helfen können und dass sie, abgeschlagen vom Leben, in einer Klinik enden würde.
Übrigens denken fast alle Suizidalen so. Manche glauben sogar, dass es besser für ihre Kinder sei, wenn sie nicht mehr da wären. Daher schließen Psychiater mit depressiven Müttern einen Vertrag, in dem die Patientin versichert, sich wegen ihrer Kinder bis zu dem und dem Zeitpunkt nicht umzubringen.
„Eine depressive Mutter ist nicht gut für die Kinder“, sagte sie gegen Ende ihres Lebens. So ein Quatsch, hab ich ins Telefon gerufen. Du hast ein super inniges Verhältnis zu deinen Jungs. Aber sie war zu keinem vernünftigen Urteil mehr fähig. Sie konnte nicht einmal mehr entscheiden, ob die Kinder besser zum Schwimmen gingen oder auf den Tennisplatz.
10.000 Menschen töten sich in Deutschland im Jahr
Das letzte Zusammentreffen mit unseren Teenagern war schwierig. Ich sah ihre Not und konnte nichts ausrichten. Auch ihre engste Vertraute vor Ort ließ sie nicht mehr an sich heran.
Ihr Verlust hat ein schwarzes Loch in meine Brust gerissen, an dem trage ich jetzt schwer. Sechs bis sieben Personen, sagt man, sind einschneidend und lebensverändernd betroffen, wenn jemand sich umbringt.
Das wären bei 10.000 Suiziden im Jahr 70.000 Menschen in Deutschland, die gerade akut leiden und manchmal ihr ganzes Leben umkrempeln. Aber schuld an Sabines Tod waren weder ihr Ex-Ehemann noch ihre eigene Mutter, noch ihre Freundinnen und Freunde und sie selbst schon gar nicht, sondern allein ihre Erkrankung, der Krebs der Seele, der Depression genannt wird.
Der Wunsch zu sterben
Ein Freund, der ebenfalls eine depressive Phase durchgemacht hat, hat mir einmal den Wunsch zu sterben erklärt: Es geht gar nicht darum, dass du sterben willst. Du willst nicht sterben und schon gar nicht deine Familie verlassen. Du willst nur diesen entsetzlichen Druck in dir loswerden.
Hinter den meisten Suiziden steht eine Depression oder bipolare Störung, und man führt die Tatsache, dass sich die Suizidzahlen seit den 1980er Jahren deutlich verringert haben, auf die zunehmende Offenheit der Gesellschaft für psychische Krankheit, aber auch auf die Gabe von Antidepressiva zurück.
Depression hat mit der Entgleisung von Neurotransmittern in unserem Hirnstoffwechsel zu tun. Antidepressiva können das ausgleichen – wenn sie richtig eingestellt sind. Bei Sabine konnte ich beobachten, wie die Krankheit ihre Persönlichkeit angriff und die Tabletten die vertraute Sabine wieder zum Vorschein brachten. Und nicht umgekehrt.
Antidepressiva retten Leben
Ich sehe das so: Natürlich gibt es lebensgeschichtliche Aspekte, die in einer Psychotherapie geklärt werden müssen. Aber können wir damit aufhören, Medikamente gegen Depression schlechtzureden? Manchmal braucht es eben beides: Therapie und Tabletten. Antidepressiva retten Leben in einer Situation, wo Selbsttötung eben keine freie Entscheidung mehr ist, sondern eine aus der Depression und Verzweiflung heraus.
Es gibt anerkannte Schutzmechanismen gegen Suizid. Eine Partnerschaft gehört dazu und eine berufliche Aufgabe. Ihre Ehe war gescheitert, und den Beruf hatte sie zugunsten der Karriere ihres Mannes und der kleinen Kinder aufgegeben. Der Wiedereinstieg stellte sich als mindestens so schwierig heraus wie das Finden eines neuen Partners. Und wir Freunde?
Wie ist mit der Neigung zum Suizid umzugehen?
Wir wussten zu wenig über Suizidalität; wie man sie erkennt und wie man mit ihr umgeht. Wir waren zum Beispiel nicht über die Möglichkeit einer ambulanten Betreuung informiert. Als Sabine von ihren schwarzen Gedanken sprach, hätten wir – statt abzuwehren – ruhig nachhaken müssen: Hast du dir schon eine Methode überlegt? Weißt du schon den Zeitpunkt? Anhand solcher Fragen erkennen Psychiater, wie ernst die Lage ist – und nehmen den Druck aus der angespannten Situation.
Sie hätte ihre Medikation nicht herunterfahren dürfen und hätte in eine Klinik gehört – das wussten mehrere Personen, die aber alle ihren Wunsch, nicht wieder eingewiesen zu werden, respektierten. Ich hätte nie gedacht, dass sie es tatsächlich tut.
Nach ihrem Tod habe ich es erfahren. Sie hat sich wenige Monate zuvor in einem professionellen Netzwerk angemeldet. Sie hat um ihre Existenz gekämpft. Wie alle Suizidalen hat sie noch länger zwischen Leben und Tod geschwankt. Bei ihrem letzten und entscheidenden Kampf war ich nicht dabei. Das tut mir entsetzlich leid.
Sechs bis sieben Personen sind zutiefst betroffen, wenn sich jemand umbringt. Vielleicht braucht es genau diese Personen, um einen Suizid zu verhindern. Plus einen guten Arzt und einen guten Psychotherapeuten. Wir wären sieben Freunde gewesen.
Hilfe für Betroffene
Hilfe und Beratung für Menschen in Not gibt es anonym und kostenlos bei der Telefonseelsorge unter 0800 1110222 oder telefonseelsorge.de oder unter suizidprophylaxe.de.
http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/...rue#pageIndex_2
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25. März 2016, 20:22 Uhr
Geplanter Suizid
Die Eltern gehen weg
Weil er unheilbar krank ist, beschließt ein Mann zu sterben. Ohne ihn will auch seine Frau nicht leben. Unser Autor hat die letzten Monate des Paares dokumentiert - er ist ein guter Freund des Sohnes.
Von Stephan Hille, SZ-Magazin
Eine 70-jährige Dame, die sich in fünf Wochen das Leben nehmen will, stellt man sich anders vor. Vergnügt und etwas aufgekratzt nimmt sie die Stufen zur Wohnung im vierten Stock. "Ich muss jetzt erst mal aus meinen hochhackigen Schuhen raus", sagt Edith Stäheli im Treppenhaus. Eine kleine, quirlige, elegante Frau. Man würde sie deutlich jünger schätzen. Edith Stäheli wirkt keineswegs lebensmüde, und sie ist es auch nicht. Aber sie hat sich entschieden. Ihr Mann, Peter Stäheli, ebenfalls 70, steigt hinter ihr ernst und steif die Treppen hinauf. Sein Parkinson, der Grund für den geplanten gemeinsamen Suizid, sieht man ihm auf den ersten Blick nicht an. Er steht etwas wackelig auf den Beinen. Es ist der 7. März 2015. Unser erstes Treffen. Stähelis haben sich um wenige Minuten verspätet. Sie waren mit Freunden zum Mittagessen verabredet. Die Freunde haben sie nach Hause gebracht, in einen Vorort von Basel.
Von jetzt an, dem 7. März gerechnet, wollen Edith und Peter Stäheli noch fünf Wochen leben. Höchstens. Den genauen Termin weiß das Ehepaar noch nicht. "Es muss einfach vor dem 15. April passieren", sagt Edith Stäheli. Dann würde sie 71 Jahre alt. Die Vorstellung, an diesem Tag Gratulationen und Geburtstagswünsche entgegennehmen zu müssen und doch kurz darauf aus dem Leben zu treten, ist für sie wie für ihren Mann Peter unerträglich. Die Entscheidung steht. Irgendwann zwischen dem 5. April, also Ostersonntag, und dem 15. April. "Wir gehen sicher nicht am Osterwochenende. Wir möchten nicht, dass unser Sohn sein Leben lang Ostern mit dem Tod seiner Eltern verbindet", sagt Edith Stäheli. Für ihn, Patrick Stäheli, 37, den einzigen Sohn, wollen die Eltern es so erträglich wie möglich machen. "Das ist für uns der wundeste Punkt", sagt die Mutter. Sie ist kerngesund. Der Sohn ist mein guter Freund. Eltern und Sohn heißen in Wahrheit anders. Sie sehen auch nicht aus wie auf den Bildern zu diesem Text.
Außerdem in der aktuellen Ausgabe des SZ-Magazins
Vor gut zehn Jahren fängt das Parkinson langsam an, sich in Peter Stäheli auszubreiten. Dank Medikamenten kann Stäheli den Verlauf aufhalten; viele Jahre spürt der ehemalige Banker keine größeren Einschränkungen. Dann, im Sommer vor zwei Jahren, eine deutliche Verschlechterung. Auslöser ist ein psychisches Trauma: der Konkurs eines kleinen Hightech-Unternehmens. Peter Stäheli ist dort Verwaltungsratspräsident. Die Firmenpleite ist sein persönlicher Scherbenhaufen. Und neue Nahrung für das Parkinson in seinem Körper. "Ich hatte plötzlich Verkrampfungen im ganzen Körper. Vom Genick an, über Schultern, Kreuz, Beine, bis in die Zehenspitzen." Peter Stäheli fährt mit den Händen den ganzen Körper entlang. "Diese Krämpfe sind unerträglich." Nur starke Schmerztabletten helfen.
"Die Krankheit schweißt uns noch mehr zusammen", sagt Edith Stäheli. "Der körperliche Verfall meines Mannes wurde immer schlimmer. Wir mussten die Dosis der Medikamente von Woche zu Woche erhöhen." Die Krankheit bestimmt mehr und mehr das Leben der Stähelis. Jeden Tag die Frage: Was geht noch, was geht nicht mehr?
Stäheli merkt jetzt, im Frühjahr 2015, dass er beim Autofahren den Schulterblick nicht mehr schafft. Er muss aufpassen, dass er im Fuß, der das Gaspedal bedient, keinen Krampf bekommt. Er fährt nur noch kurze Strecken, zum Bäcker zum Beispiel. "Eigentlich sollte ich besser gar nicht mehr fahren." Doch damit würde er seinen Bewegungsradius extrem einschränken. "Nach einem halben Kilometer zu Fuß ist fertig. Dann verkrampft sich alles."
Peter Stähelis größte Einbuße an Lebensqualität: Er kann nicht mehr Golf spielen. Die Leidenschaft von ihm und seiner Frau. Damit fällt für die Stähelis nicht nur ein Hobby weg, sondern auch ein Freundeskreis, der sich regelmäßig auf dem Golfplatz trifft. Auch unmöglich ist die Gartenarbeit, die Pflege der mannshohen Buchsbäume, Wacholdersträucher und Lebensbäume auf der riesigen Dachterrasse.
Als Unternehmer ordnet Peter Stäheli das Leben in Plus und Minus. Seine aktuelle Bilanz ist düster: "Wenn man dazu verurteilt ist, nur noch im Sessel zu sitzen, Zeitung zu lesen, und einem auch das noch Mühe bereitet, dann ist das kein Leben mehr, wie man es früher genossen hat."
Aufhalten lässt sich die Krankheit nun nicht mehr. Mit der Zeit bräuchte er unweigerlich einen Rollator, später einen Rollstuhl. Irgendwann bliebe nur das Bett. All das will Peter Stäheli auf keinen Fall. Schon aus Rücksicht gegenüber seiner Frau. Ein Weiterleben hat für ihn keinen Wert. Und ohne ihn hat auch ihr Leben keinen Wert mehr. Sagt die Frau. "Ich würde es nicht ertragen, heimzukommen und alleine zu sein." Und: "Ich weiß, es ist ein zutiefst egoistischer Gedanke, aber er ist von Liebe getragen." In unserem Gespräch fällt immer wieder das Wort "Selbstbestimmung".
Edith und Peter Stähelis Wunsch, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden, reift im Herbst 2014 zu einem definitiven Entschluss. Der Sohn hat die gesundheitliche Verschlechterung seines Vaters mitbekommen. Von Zürich aus ist es nur eine Stunde bis zu seinem Elternhaus. Er ist häufig zu Besuch. Ein paar Wochen zuvor ist er mit seiner Freundin und dem zweijährigen Sohn von Zürich nach Köln gezogen. Er arbeitet dort bei einer Fernsehproduktionsfirma. Ihre Entscheidung wollen Peter und Edith Stäheli ihrem Sohn im Herbst vor zwei Jahren möglichst schonend beibringen. Nur, wie sollen ein nicht sterbenskranker Vater und eine kerngesunde Mutter dem einzigen Sohn verständlich machen, dass sie sich in einem halben Jahr umbringen werden? "Für Patrick hat sich das Glas mit Informationen immer mehr gefüllt", sagt Peter Stäheli. Die Eltern deuten immer wieder an, die Wohnung verkaufen zu wollen. Vor 39 Jahren haben sie die Dachgeschosswohnung gekauft. Zwei Jahre später, 1977, kommt Patrick auf die Welt. Er wächst in dieser Wohnung auf. Wenn er zu Besuch ist, schläft er in seinem alten Kinderzimmer. Nebenan steht ein Kinderbett für den zweijährigen Enkel Simon. Die Großeltern lieben ihn heiß und innig; sie sähen ihn viel lieber öfter.
An einem Abend im Oktober 2014 kommt das Gespräch mit dem Sohn in der elterlichen Wohnung wieder einmal auf die Krankheit des Vaters. "Ich werde schon sehr bald die Dinge, die ich mag, nicht mehr tun können", sagt Peter Stäheli da. Irgendwann werde er die Treppe in den vierten Stock nicht mehr schaffen. Einen Lift gibt es nicht. Der Vater sagt: "Wir werden die Wohnung verkaufen." Pause. Die Mutter fügt hinzu: "Und wir suchen keine neue mehr." Patrick versteht nicht recht. "Wie, ihr sucht keine neue Wohnung? Wie meint ihr das?" Dann fallen zwei entscheidende Sätze: "Papi hat sich entschlossen, seiner Krankheit ein Ende zu setzten." Schweigen. Die Mutter fügt an: "Und ich werde mit ihm gehen." Der Sohn bricht zusammen. Er betrinkt sich an diesem Abend fürchterlich. "Kanonenvoll war er", sagt die Mutter. Ihr Mann liegt den Rest des Abends mit Krämpfen auf dem Sofa, während sie versucht, den Sohn zu beruhigen.
"Wolltet ihr nicht noch die Pinguine auf Feuerland sehen?"
Für den Sohn ist dieser Abend im Oktober 2014 der Beginn eines monatelangen Wechselbads der Gefühle: erst Schock und Sprachlosigkeit. Dann Wut und große Traurigkeit. Wut darüber, dass seine Eltern nach 37 gemeinsamen Jahren einfach so einen Schlussstrich ziehen werden. Sich aus seinem Leben verabschieden. Noch lange versucht er, seinen Eltern Alternativen aufzuzeigen: "Wolltet ihr nicht noch die Pinguine auf Feuerland sehen? Warum macht ihr nicht lange Reisen? Warum nicht in eine Parterrewohnung ziehen und gute Bücher im Sessel lesen?" Der Vater antwortet: "Ich habe nie in meinem Leben im Sessel Bücher gelesen. Warum sollte ich jetzt damit anfangen?" Weite Reisen im Flugzeug sind für Peter Stäheli inzwischen ohnehin unmöglich. Er kann nicht mehr lange sitzen.
Patrick Stäheli wird klar, dass er in seinem Ringen um das Leben der Eltern keine Chance hat. Dennoch: Wie soll sich ein Sohn damit abfinden, dass die gesunde Mutter mit dem kranken Vater gemeinsam aus dem Leben treten will? "Bitte, Papa, lass mir die Mami da", fleht der Sohn einmal. Krämpfe durchzucken den Vater. Die Mutter sagt in diesem Augenblick nichts.
Haben die Eltern ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrem Sohn? "Ich kann das nicht eindeutig mit Ja beantworten", sagt die Mutter. Patrick habe jetzt ja seine eigene Familie, in Köln. Und die müsse so stark sein, dass die eigenen Eltern nicht mehr so eine wichtige Rolle spielen. "So wie Eltern ihre Kinder ziehen lassen, müssen Kinder auch ihre Eltern ziehen lassen", sagt der Vater. Und wenn der Sohn den Entschluss der Eltern nicht akzeptieren würde? "Ich würde es dennoch tun", sagt die Mutter. "Ich würde an seinen Verstand appellieren", sagt der Vater.
Aber geht das? Kann man als Sohn den Verstand wahren, wenn die Eltern ihren eigenen Suizid ankündigen? Wirklich fassen kann Pat-rick Stäheli das alles nicht. "Es ist eine schreckliche Vorstellung, bald nicht mehr den Rückhalt der Eltern zu haben", sagt er. "Ich werde meinen Fels in der Brandung verlieren." Und er kann nichts dagegen ausrichten. "Natürlich ist die Entscheidung meiner Eltern egoistisch, aber ihr Egoismus ist ihre Brücke zu Freiheit und Selbstbestimmung." Er fügt sich. Hätte er überhaupt eine Wahl? Könnte er den Suizid verhindern? Und täte er sich und den Eltern, die ihr Ableben so akribisch planen, einen Gefallen? Wäre es für ihn besser, die Eltern würden sich eines Tages unangekündigt das Leben nehmen? "Nein", sagt er. "So haben wir die Chance, diesen Weg sehr bewusst und positiv zu Ende zu gehen."
Jetzt, wenige Wochen vor diesem fürchterlichen Stichtag, versucht er, nicht in lähmende Trauer zu fallen. Aus Vernunft. "Lieber will ich den Sonnenuntergang genießen, als darüber zu trauern, dass die Sonne bald untergeht." Und doch gelingt ihm das häufig nicht. "Ich weine oft im Stillen. Aus heiterem Himmel. Im Auto oder zu Hause in Köln." Auslöser ist eine Erinnerung, ein Foto, ein Bild im Kopf. Zum Beispiel der Gedanke, dass er nie mehr den Duft von Weihnachtsgebäck in der elterlichen Wohnung riechen wird. Patrick Stäheli hat große Angst vor diesem Tag, an dem seine Eltern gestorben sein werden. Maximal vier Wochenenden sind es noch. So will es das gesetzte Zeitfenster der Eltern.
Die Wohnung ist bereits verkauft. Zum 1. Juli 2015. Damit der Sohn in Ruhe räumen kann. Auch das Meißner Porzellan und das erste von zwei Autos sind verkauft. "Es ist, wie wenn man in eine Alterswohnung zieht und sich vorher von vielen Dingen verabschieden muss", sagt der Vater. "Bevor wir gehen, versuchen wir, uns von so viel Ballast wie möglich zu trennen." Zuerst wird immer der Sohn gefragt, ob er dies oder das noch haben will. Er mag das nicht. Er möchte einfach nur Zeit mit den Eltern verbringen.
Doch für den Vater gibt es noch viel zu tun: Das zweite Auto, den BMW, verkaufen, Papiere ordnen, Versicherungsdokumente sichten. Die Steuererklärung für das vergangene Jahr einreichen, damit sein Sohn nicht nachzahlen muss. Und: Die Eltern möchten ihre eigene Trauerfeier planen, bis ins letzte Detail und gemeinsam mit ihrem Sohn.
14. März 2015. Es ist der viertletzte Samstag im Leben der Stähelis. Der Sohn ist aus Köln angereist. Anwesend ist auch Beat Trachsler. Der pensionierte Dozent für Kunst- und Kulturgeschichte in Basel hält gelegentlich Trauerreden. Ihn haben die Stähelis über gemeinsame Freunde gefunden. Denn eine kirchliche Trauerfeier kommt für sie nicht in Frage, obwohl sie gläubig sind. "Wir wollen den Pfarrer nicht in einen Clinch bringen", sagt Peter Stäheli. "Die Kirche ist gegen Suizid, und ein Pfarrer kann nichts anderes predigen." Die Eltern möchten nicht, dass auf der Trauerfeier gesungen oder gebetet wird. Keine kirchlichen Rituale. Wieder fällt das Wort "selbstbestimmt". Daher also nun Beat Trachsler. Vor zwei Wochen hat er zugesagt.
Heute treffen sie sich, um Trauerfeier und Trauerrede zu besprechen. Der Sohn sieht den graumelierten, freundlichen Trachsler, 74 Jahre alt, zum ersten Mal. "Es ist absurd: Wir reden hier über die Farbe der Blumen, und meine Eltern sitzen neben mir." Trachsler fragt ihn, wie er bisher seine Eltern erlebt habe. Die Eltern schauen Patrick an. Dem Sohn wird es wieder viel zu viel. Er protestiert: "Als ob es hier um eine Festrede zum 60. Geburtstag ginge!" Der Vater versucht zu vermitteln: "Aber Patrick, Herr Trachsler muss doch wissen, wie wir waren." Der Sohn versucht, sich zusammenzureißen, geht auf die Dachterrasse und zündet sich eine Zigarette an. Hofft, dass das Gespräch bald vorbei ist. Beat Trachsler macht sich Notizen. Zu Edith Stäheli: "Eine quirlige Frau, die gern lacht und gern erzählt." - "Ein Feuerwerk", wirft ihr Mann ein. "Und er war immer mein Rettungsschwimmer, mein Rettungsring", sagt Edith Stäheli über ihren Mann. "Bodenständig", notiert sich Trachsler zu Peter Stäheli.
Die Eltern möchten, dass ihre Asche nach der Trauerfeier in Basel in den Rhein gestreut wird. Von einem der Fährboote, im kleinsten Kreis. Zusammen mit einfachen, weißen Blütenblättern. Wie einen Film haben sie ihren Tod und ihre Trauerfeier im Kopf. "Es soll keine traurige Abdankung werden", sagt Edith Stäheli. Ein Grab wollen sie nicht. "Wir möchten keinen Ort, an dem sich Freunde und Verwandte an uns erinnern", sagt Peter Stäheli. "Es wird uns einfach nicht mehr geben."
Beat Trachsler verabschiedet sich. Der Sohn hat sich wieder etwas gefasst. "Ich bin ihm sehr dankbar, dass er uns keine Vorwürfe mehr macht", sagt die Mutter, ohne dass Patrick es hören kann. "Aber ich wäre auch enttäuscht gewesen, wenn von ihm keine Vorwürfe gekommen wären."
"Mich als straffällige Person wird es nicht mehr geben."
Die Eltern freuen sich auf das nächste Wochenende. Dann wird Patrick mit seinem Sohn zu ihnen kommen. Es wird das letzte Treffen der Eltern mit ihrem zweijährigen Enkel Simon. Patricks Freundin Karin wird nicht mitkommen. Karin, eine Pfarrerstochter, kann mit der ganzen Situation nicht umgehen. Sie will den Plan der Stähelis weder verstehen noch akzeptieren. Wären es ihre Eltern, hätte sie sofort den Kontakt abgebrochen, hat sie gesagt. Für Patrick ist damit alles noch viel schwerer. Eine wichtige Stütze fehlt. Er fühlt sich noch mehr allein.
Am liebsten würden Edith und Peter Stäheli über die Sterbehilfeorganisation Exit in den Suizid gehen. Seit mehr als 30 Jahren sind sie dort Mitglied. Bereits im Herbst vor zwei Jahren trifft sich Edith Stäheli mit einer Sterbebegleiterin von Exit. Stäheli erfährt, dass Exit mit großer Wahrscheinlichkeit ihrem Mann zum Freitod verhelfen würde, nicht aber ihr, schließlich ist Edith Stäheli gesund.
Sterbehilfe Geplanter SuizidBild vergrößern
Ein Fährboot auf dem Rhein, zwei Urnen aus Ton, schlichte weiße Blütenblätter: So haben sich die Eltern den letzten Abschied vorgestellt. (Foto: Illustration: Isabel Seliger)
"Über Exit zu gehen wäre einfach die sauberste Art gewesen", sagt sie. "Aber jetzt haben wir uns anders organisiert." Sie haben sich für Tabletten entschieden. Den Ablauf des Tags ihres Suizids hat sie ganz klar vor Augen. "Ich will sterben", sagt sie unter Tränen. "Es ist das größte Geschenk meines Mannes, dass er warten wird, bis ich gestorben bin. Erst dann wird er hinterherkommen. Das ist unser gegenseitiges Versprechen." Ihr Mann nickt. "Natürlich werde ich mich strafbar machen, wegen Beihilfe zum Selbstmord. Nur, es wird keine Rolle spielen, denn mich als straffällige Person wird es nicht mehr geben." Angst davor, dass ihr Vorhaben scheitern könnte, haben sie nicht. Die Details erzählen sie, während der Sohn draußen ist. Er will das nicht hören. Er soll es auch nicht hören, sagen die Eltern. Ihnen aber scheint es gut zu tun, mir, einem für sie Außenstehenden, alles zu erzählen. Sie tun dies mit einer beinahe verstörenden Abgeklärtheit.
Sehr wenige enge Freunde sind in den Plan der Stähelis eingeweiht. Widerspruch gibt es kaum. Nur eine Freundin hat versucht, Edith Stäheli von ihrem Plan abzubringen. Vergeblich. "Es ist doch mein freier Wille. Und für mich wird es einfacher, weil mein Mann wartet, bis ich gegangen bin", sagt Edith Stäheli unter Tränen. Peter Stäheli hat erst gar nicht versucht, seine Frau zum Weiterleben zu überreden. "Ich kenne meine Frau lange genug und weiß, was sie denkt." Und nein: Hörig sei ihm seine Frau ganz sicher nicht. Und ja: Selbstverständlich hätte sie weiterleben können. Ohne ihn. Aber Edith Stäheli hat das von Anfang an ausgeschlossen. "Wir sind seit 49 Jahren ein Paar, und jetzt machen wir unser Leben fertig", sagt sie. Wieder Tränen. "Für mich stimmt alles."
Weitere Besuche von mir wünschen die Stähelis nicht. Ihre Uhr läuft ab. Sie möchten sich jetzt ganz auf das letzte Treffen mit ihrem Enkel konzentrieren. Aber wir werden noch telefonieren. Der Abschied ist beklemmend. Das nächste Mal werde ich sie tot in der Wohnung vorfinden. Ich werde ihren Sohn begleiten. So haben wir es verabredet.
Freitag, 20. März 2015. Basel. Zwei Wochen vor Ostern. Voller Freude erwarten die Stähelis ihren Sohn und Enkel am Bahnhof. Der zweijährige Simon springt in die Arme seiner Großeltern. Die Großmutter heißt für ihn "Nani", der Großvater "Gro". Für den Enkel soll es ein ganz normales Wochenende bei Nani und Gro werden. Möglichst keine Abschiedsstimmung. Die Großeltern haben ein kleines buntes Stoffzelt gekauft. "Wir haben das ganze Wochenende darin gespielt", erzählt Edith Stäheli später am Telefon. Sehr anhänglich sei der Enkel gewesen. Nur von der Nani habe er sich wickeln lassen. "Irgendetwas muss er doch gespürt haben, vielleicht habe ich ihn auch intensiver umarmt als sonst", sagt sie. Immer wieder sei er zu ihr gekommen und habe ihr ins Ohr geflüstert: "Ich hab dich lieb."
Zoobesuch am Samstag. Patrick hält einige Momente mit dem Handy fest: Enkel und Nani Hand in Hand vor den Flamingos. Enkel auf Nanis Arm bei der Seehundfütterung. Bei dem Gedanken, dass er dieses Bild zum letzten Mal macht, wird ihm schwer ums Herz. Die Frage nach dem Warum schießt ihm durch den Kopf. "Warum macht meine Mutter das? Warum sagt sie jetzt nicht, dass sie solche Momente noch öfter erleben will?" Er fragt die Mutter das nicht mehr. Jetzt nicht mehr. Und schon gar nicht in Anwesenheit seines Sohnes. Aber er hofft, dass es sich zumindest die Mutter im letzten Augenblick noch einmal anders überlegt. Nein, auch der letzte Besuch von ihrem Enkel Simon habe ihren Entschluss nicht in Frage gestellt, sagt Edith Stäheli später am Telefon. Sie sehe den Enkel ja ohnehin nicht oft.
Vor Wochen schon hatte der Sohn die Mutter gefragt, ob sie denn nicht den Enkel Fahrrad fahren sehen möchte. "Weißt du, Patrick, ich werde doch gar nicht erleben, wie er Fahrradfahren lernt", lautete ihre Antwort. Mit dem Umzug ihres Sohnes aus der Schweiz nach Köln sei die Verbindung gekappt, sagen beide Eltern. Ihre Haltung klingt brutal. Als Großeltern fühlen sie sich überflüssig. Es ist nicht als Vorwurf gegenüber dem Sohn gemeint. Das Wochenende mit Sohn und Enkel hat Peter Stäheli sehr aufgewühlt. Nachts krümmt er sich vor Krämpfen im Bett. Als sich am Sonntagabend hinter Sohn und Enkel die Zugtür schließt, stehen den Stähelis auf dem Bahnsteig die Tränen in den Augen. Winken, bis der Zug nur noch ein kleiner Punkt ist. Erstmals manifestiert sich das Gefühl der Finalität. Dieses "Nie mehr". Der unwiederbringliche Moment, den Enkel in den Armen zu halten: "Wir haben ein Stück von uns verloren, nein, preisgegeben", sagt Peter Stäheli am Telefon. Die Eltern versuchen sich mit dem Gedanken zu trösten, den Sohn am nächsten Wochenende wiederzusehen. Am Wochenende vor Ostern. Dann zum letzten Mal. Auf der Zugfahrt nach Köln erreicht Patrick eine Whatsapp-Nachricht der Mutter: "Wir sind traurig. Vermissen Euch." Patrick ist völlig ausgelaugt.
Gewissensbisse und ein Gefühl der Ohnmacht plagen ihn. Macht er alles richtig? Müsste er sich nicht stärker gegen die Entscheidung der Mutter stemmen? Könnte er den Suizid vielleicht doch verhindern? Das Ruder irgendwie noch herumreißen? Am Ende ist der Sohn mit diesen Fragen auf sich allein gestellt. Albträume plagen ihn. Er reibt sich auf. "Und doch komme ich immer wieder zu dem Schluss, dass es meine Aufgabe ist, die Entscheidung der Eltern zu respektieren", sagt Patrick. Im Streit zu scheiden wäre das Schlimmste, was jetzt passieren könnte.
Eine Woche später. Samstag, 28. März 2015. Das letzte Wochenende vor Ostern. Und das letzte Treffen von Eltern und Sohn. Es steht ein gemeinsamer Termin beim Anwalt an. Der Vater würde noch gern in den Gelben Seiten nach einem Bestatter suchen. Da platzt Patrick der Kragen: "Ich werde nicht eure Bestattung organisieren, solange ihr am Leben seid."
Dann eine kleine Überraschung: Karin, die Freundin von Patrick, möchte seine Eltern nun doch noch einmal sehen, sich verabschieden. Die Eltern und Patrick freuen sich. Aber es bringt den Zeitplan durcheinander. Sie verschieben den endgültigen Abschied um eine Woche auf Karsamstag.
Eine Woche später. Karsamstag, 4. April. Für ein Mittagessen reisen Patrick, Karin und Simon von Köln in die Schweiz. Mit dem Auto, um noch ein paar Sachen mitzunehmen. Viele Tränen. "Ich habe meinen Vater noch nie so weinen gesehen", erzählt Patrick später am Telefon. "Ja, das ging ans Herz", sagt auch Peter Stäheli. Er musste sich ins Bett legen, erzählt er. Krämpfe. Alle, der Sohn, die Freundin, seine Frau, hätten sich dazugelegt. Ein letzter intensiver Moment des Familienzusammenhalts. Nach vier Stunden wieder Abreise. Tränen. Umarmungen. Plötzlich ist er da, der definitive Abschied. Abfahrt. "Es war ein schreckliches Gefühl, die Eltern ein letztes Mal zu sehen", sagt Patrick. "Aber es war ein harmonischer Abschluss für alle. Es hätte nicht besser laufen können." Bevor der zweijährige Simon auf dem Rückweg nach Köln im Auto einschläft, will er wissen, warum die Eltern weinen. "Weil wir traurig sind."
Ostermontag, 6. April 2015, ein Anruf von Peter Stäheli. "Wir haben jetzt den Termin festgelegt: Am Donnerstag, den 9. April, werden wir verreisen." So umschreibt Peter Stäheli den Stichtag, an dem seine Frau und er den lang geplanten Suizid in die Tat umsetzen wollen. Neben den Stähelis kenne jetzt nur ich das Datum. Eine Absprache zwischen den Eltern, dem Sohn und mir. Patrick will und soll den genauen Tag nicht im Vorfeld erfahren. Er muss sich schützen. Auch, um nicht in Zwiespalt zu geraten und vielleicht doch in letzter Minute das Vorhaben der Eltern zu verhindern. Aber er weiß, dass es ab jetzt jeden Tag passieren kann. Wenn ich am Freitagmorgen, 10. April, die Stähelis telefonisch nicht mehr erreiche, werden Patrick und ich uns auf den Weg zu ihrem Haus machen. Entgegen der wichtigsten journalistischen Grundregel bin ich längst ein Teil dieser Geschichte geworden.
Freitagfrüh, 10. April 2015. Eine SMS von Patrick: "Ich habe das Gefühl, es ist passiert ..." Die Stähelis gehen nicht mehr ans Telefon. Kurzes Telefonat nach Köln. Patrick verspricht aufzubrechen, aber erst am Nachmittag. Er muss noch arbeiten. Warum nur kann er nicht alles stehen und liegen lassen? Der Zug braucht ohnehin vier Stunden. SMS fliegen hin und her. Er verspricht, sich zu beeilen. Die nächste Hiobsbotschaft: Feuerwehreinsatz am Bahnhof Köln-Deutz. Am Kölner Hauptbahnhof geht stundenlang nichts mehr. Per SMS kündigt Patrick seine Ankunft für 22 Uhr an. "Ich habe Angst vor dem, was kommt", schreibt er. 22.30 Uhr. Wir stehen vor dem Haus der Eltern. Hinter den dichten Bäumen auf der Dachterrasse brennt Licht. Die Wohnung im vierten Stock scheint hell erleuchtet. Die Zeituhr? Welches Bild wird uns erwarten? Erst mal rauchen. Gedanken sammeln. Wir drücken uns vor dem Anruf bei der Polizei. Schließlich wählt Patrick den Notruf. Knapp sechs Minuten dauert das Gespräch. Personendaten durchgeben, die Krankheit des Vaters erklären. Begründen, warum er, obwohl im Besitz eines Schlüssels, nicht ohne Polizei in die Wohnung möchte. Endlich, eine Polizei-streife fährt vor. Ein junger Polizist und eine junge Polizistin. Wieder erklärt der Sohn, dass er Angst hat, die Wohnung zu betreten. "Jetzt gehen Sie mal nicht gleich vom Schlimmsten aus", versucht der Polizist zu beruhigen. Die Polizisten verschwinden im Treppenhaus. Patrick und ich warten vor dem Haus. Eine gefühlte Ewigkeit. Dann erscheint die Polizistin: "Ich habe zwei Nachrichten. Ihre Mutter ist leider verstorben, ihr Vater ist ansprechbar. Es tut mir leid."
"Papa, was hast du nur getan?"
Der Satz der Polizistin zieht uns den Boden unter den Füßen weg. Ein einziger Gedanke hämmert in meinem Kopf: Das-darf-nicht-wahr-sein! Patrick bricht zusammen. Rettungssanitäter und Notarzt eilen an uns vorbei. "Papa, was hast du nur getan?", entfährt es dem Sohn. Im selben Moment schämt er sich dafür. Minuten vergehen. Ruhig atmen. Sammeln. In den vierten Stock steigen. Peter Stäheli liegt im Flur. Auf dem Rücken. Im Delirium. Er hängt bereits am Tropf. Flatternder Blick. Ein Nuscheln. "Bitte ... alleine lassen." Der Notarzt zum Sohn: "Sie müssen sich keine Sorgen machen, Herr Stäheli. Ihr Vater wird durchkommen." Wieder dieser Gedanke: Das-darf-nicht-wahr-sein! Patrick beugt sich über den am Boden liegenden Vater, streichelt ihn. Abtransport. Kantonsspital. Der Sohn verspricht dem Vater nachzukommen. Die Polizisten übernehmen: "Bitte nichts anfassen." Im Schlafzimmer im Bett die Mutter. Wie aufgebahrt. Friedlich. Im Flur Polizeifunk. Die Polizistin zu Patrick: "Wenn Sie sich von Ihrer Mutter verabschieden wollen, dann besser jetzt. Gleich wird hier viel los sein." Ruhe vor dem Sturm. Personalien aufnehmen. Dann treten auf: ein Polizeifotograf, ein Forensiker, ein Gerichtsmediziner, eine Staatsanwältin. Spurensicherung und Kripo sind unterwegs. Wohnungs- und Hausschlüssel an die Polizisten abgeben. "Wir melden uns bei Ihnen." Patricks Gedanken kreisen um den Vater. "Papa tut mir leid." Ins nahe Kantonsspital. Notaufnahme.
Eine Polizeistreife ist bereits vor Ort. Patrick darf kurz zu seinem Vater, ein Polizist ist dabei. Der Vater bittet den Sohn zu helfen. Er will Tabletten. "Das geht nicht", sagt Patrick. "Wo ist Mami?", fragt Peter Stäheli. "Die Mami ist tot." Ob der Vater verstanden hat? Das Einzige, was er zwischendurch klar sagen kann: "Ich tue es gleich wieder." Dann wieder Dämmerzustand. Die größte Sorge des Sohnes: dass sein Vater jetzt gaga wird. Ein Pflegefall. Nichts ist in diesem Moment klar, außer, dass der GAU eingetreten ist: Die gesunde Mutter tot, der kranke Vater am Leben. So viel scheint festzustehen: Peter Stäheli wird den Suizidversuch überleben. Wie es weitergeht? Völlig ungewiss. Es ist drei Uhr in der Nacht. Krankenschwestern tuscheln. Es spricht sich schnell herum, dass etwas Schreckliches passiert sein muss. Die Polizei bittet den Sohn, vorläufig im Krankenhaus zu bleiben. Es fällt auf, dass Patrick und ich nicht mehr ungestört miteinander reden können. In unserer Nähe immer ein Polizist. Ich fahre ins Hotel. An Schlaf ist nicht zu denken.
Um fünf Uhr in der Nacht klingelt mein Handy. Ein Korporal der Kriminalpolizei des Kantons Basel-Land. Ob ich am Morgen um elf Uhr zur Einvernahme kommen könne? Es ist mehr eine Aufforderung als eine Frage. "Wird gegen mich ermittelt?", frage ich. "Nein", sagt er. Ich müsse mich um den Sohn, meinen Freund, kümmern, sage ich. "Der wird am Morgen zur gleichen Zeit von der Staatsanwaltschaft befragt", erklärt der Kriminalist. Also gut.
Früh am Morgen trifft Patrick im Hotel ein. Eine Streife bringt ihn. Der Schock sitzt schwer in den Gliedern. In ein paar Stunden schon der Termin bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Müssen wir uns Sorgen machen? Nach allem, was ich weiß, haben wir uns nicht strafbar gemacht. Aber die letzte Sicherheit fehlt. Nach drei Stunden unruhigen Schlafes klingelt der Wecker. Patrick erreicht den Anwalt des Vaters. Wir können ihn treffen. 10.30 Uhr, Parkplatz von Kantonspolizei und Staatsanwaltschaft. Auch der Anwalt, ein guter Freund von Peter Stäheli, ist geschockt. Er war in den Plan der Stähelis eingeweiht. Auch er hat mit diesem Ausgang nicht gerechnet. Sein einziger Rat an den Sohn und mich: "Machen Sie reinen Tisch."
Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln in einem "außergewöhnlichen Todesfall". Sechs Stunden dauert die getrennte Einvernahme. Der Kriminalpolizist protokolliert jeden Satz. Am Ende werden es 14 Seiten Protokoll. Im Zentrum die Frage: Ist Edith Stäheli aus freien Stücken verstorben? Soweit ich das beurteilen kann: Ja. Ich habe die ersten Gespräche mit den Eltern mit einer Kamera aufgezeichnet. Diese Aufnahmen sollen sich nun als Schatz erweisen. Auf Bitten der Polizei stelle ich sie den Ermittlern zur Verfügung. Um Peter Stäheli vom Verdacht der Beihilfe am Tod seiner Frau zu entlasten. Und um jeden möglichen Verdacht auszuräumen, er hätte seinen Suizid nur vortäuschen wollen. Das Ehepaar hat sich gegenseitig zu Alleinerben erklärt. Damit steht Peter Stäheli im Fokus der Ermittlungen. Für Polizei und Staatsanwaltschaft scheint der Fall längst nicht klar. Und zur Ermittlungstaktik gehört auch, sich nicht in die Karten schauen zu lassen. Der Ermittler ist sehr freundlich. Aber ob er meinen Schilderungen Glauben schenkt, verrät er nicht. Seine letzte Frage bringt mich aus der Bahn: Ob ich sicher sei, dass Patrick und ich vor dem Eintreffen der Polizei nicht in der Wohnung gewesen seien? Man habe am Leichnam der Mutter Schleifspuren gefunden, die darauf hindeuten könnten, dass Edith Stäheli möglicherweise erst nach ihrem Tod ins Bett gehievt wurde. Und dies, glaubt der Ermittler, könne der parkinsonkranke Mann unmöglich allein bewerkstelligt haben.
Peter Stäheli ist noch nicht vernehmungsfähig. Er liegt im Kantonsspital. Er ist ansprechbar, fantasiert aber. Spricht sehr undeutlich. Und er sieht Dinge durch sein Spitalzimmer fliegen. Noch immer sind zwei Polizeibeamte vor Ort. Der behandelnde Arzt ist zuversichtlich, dass der Vater wieder zu vollem Bewusstsein kommt. Aber sicher ist nichts. Noch ist er nicht außer Lebensgefahr. Am nächsten Tag wird er in die geschlossene Abteilung der Psychiatrischen Klinik des Kantons überführt. Intensiv-Pflegestation B1. Fürsorgerische Unterbringung. Immer wieder lässt Peter Stäheli Ärzte und Pflegepersonal wissen: "Ich werde es gleich wieder tun."
Eine Woche später. Samstag, 18. April 2015. Psychiatrie Basel-Land in Liestal. Ein fünfstöckiger grauer Betonklotz auf Stelzen. Im Garten gibt es ein kleines Café mit einfachen Tischen unter Sonnenschirmen. Ganz am Rand in einer der Ecken sitzen Peter Stäheli, Patrick und Karin. Alle essen Eis. Es wird gelacht. Entspannte Stimmung. Ein Hauch von Normalität. Peter Stäheli freut sich, mich zu sehen. Es geht ihm von Tag zu Tag besser. Und er erinnert sich jetzt an alles. Bis zu dem Moment, als er an jenem Abend vor einer Woche selbst die Tabletten schluckte - "doppelt so viel wie die Mami" - und einschlief. Was danach passierte, ist ein schwarzes Loch. Bald wird die Polizei auch ihn vernehmen. Vater und Sohn gehen die wichtigsten Fragen durch: "Hat Mami die Tabletten selbst genommen?" - "Ja." - "Ist sie im Bett gestorben?" - "Ja." - "Woher dann die Schleifspuren?" - "Nachdem sie tot war, habe ich sie an den Achseln genommen und versucht, sie höher ins Bett zu legen." - "Wie kamst du in den Flur, wo dich die Polizei gefunden hat?" - "Ich weiß es nicht." Der Vater ist müde. Sohn und Freundin bringen ihn hoch auf sein Zimmer. Beide müssen morgen zurück nach Köln.
Patrick hatte sich bei der Arbeit in Köln abgemeldet. Den Vater eine Woche lang täglich in der Klinik besucht. "Das ist jetzt unsere Zeit", sagt Patrick. Noch nie habe er sich mit seinem Vater so verbunden gefühlt. "Papa hat sich immer zurückgenommen. Er hat sein Leben lang das Parkett verlegt, auf dem meine Mutter Ballett tanzen konnte. Aber jetzt kann ich für Papa da sein. Er kann sich jetzt fallen lassen." Wie genau es weitergeht, ist noch unklar. Aber Vater und Sohn haben eine Abmachung: "Wir werden noch ein Chateaubriand essen und dazu ein Bier trinken, in Freiheit."
Einen Tag später. Sonntag, 19. April. Zu Besuch bei Peter Stäheli in der geschlossenen Psychiatrie B1. Erstmals treffe ich den Vater allein, ohne Sohn. An seinem Todeswunsch hält er fest. "Ich bin ein gestorbener Mann", sagt er, "mich gibt es nicht mehr." Vor vier Tagen wäre seine Frau 71 Jahre alt geworden. "Ich habe viel geweint." Nicht ihr Tod schmerzt ihn, sondern dass er nicht mit ihr ging. "Immerhin konnte ich meine Frau vor ihrer größten Sorge, alleine zu überleben, bewahren", sagt er. "Ich habe mein Versprechen ihr gegenüber eingehalten." Nun will er so schnell wie möglich hinterher. "Ich vermisse sie. Unsere Ehe ist ein 49 Jahre altes Kunstwerk, und das darf man nicht auseinanderreißen." Peter Stäheli will nun über die Sterbehilfeorganisation Exit in den Suizid gehen.
Wir spielen eine Partie Tischtennis. Neben uns am Tisch taucht plötzlich ein Bär von einem Menschen auf. "Ich mach den Schiedsrichter", murmelt der Riese immer wieder monoton und starrt ins Leere. Stäheli lässt sich nichts anmerken. Er lächelt. Grad eben hat er wieder einen Ball platziert, für mich unerreichbar. Seine Vision, mit Hilfe von Exit zu sterben, scheint seine Lebensgeister zu wecken.
"Edith ist schon in der Urne, und ich bin noch immer da."
Wieder eine Woche später. Sonntag, 26. April 2015. Peter Stäheli ist der Freiheit und damit seinem Tod ein Stückchen näher gekommen. Vor ein paar Tagen ist er in die offene Psychiatrie verlegt worden. Jetzt kann er sich kurz von der Klinik entfernen, er muss sich nur abmelden. Zum zweiten Mal plant Stäheli seinen Abgang. "Ich bin jetzt beim Auslaufen wie nach einem Hundertmeterlauf", sagt er. Anruf bei der Sterbebegleiterin von Exit. Anruf beim Hausarzt. Der verspricht, noch am selben Tag die Krankenakte an Exit zu schicken. Es kann Peter Stäheli nicht schnell genug gehen. Doch wird Exit ihn gehen lassen? Ihm das Rezept für das tödliche Mittel ausstellen? Darüber müssen noch eine Psychiaterin und ein Vertrauensarzt entscheiden.
Eine Todesanzeige erscheint in der Basler Zeitung. "Mit großer Trauer nehmen wir Abschied von Edith Stäheli." Darunter die Angehörigen, an erster Stelle der Ehemann, dann Patrick und seine Freundin. Freunde und Bekannte, die nicht in den Plan der Stähelis eingeweiht waren und jetzt die Todesanzeige lesen, haben kaum eine Chance, Peter Stäheli zu erreichen. Die Wohnung ist noch versiegelt, das Handy beschlagnahmt, eine neue Handynummer unbekannt. Der Witwer Stäheli - verschollen. Ihm ist das egal. "Ich habe abgeschlossen. Das Bittere für mich: Edith ist schon in der Urne, und ich bin noch immer da."
Das Warten auf Termine verbringt Peter Stäheli in der Psychiatrie mit Schachspielen, viel Schlafen und ein bisschen Tischtennis. Und er lernt bügeln. "So muss ich nicht malen oder schnitzen. Das ist nichts für mich." Mitte Mai wird sein Antrag auf Entlassung aus der Psychiatrie bewilligt. Offiziell wird Stäheli zum Sohn nach Köln ziehen. Sein inoffizieller Plan: Sobald er von Exit den Termin hat, will er noch für eine Woche zum Sohn nach Köln. Und dann aus dem Leben scheiden. Im Sterbezimmer von Exit, in Zürich.
29. Mai 2015. Letzter Besuch in der Psychiatrie. Peter Stäheli ist freudig aufgekratzt. Er darf sterben. Exit hat zugestimmt. Eine Vertrauensärztin von Exit hatte sich vor ein paar Tagen mit Peter Stäheli getroffen. Auf einer Bank im Klinikpark. "Die Chemie hat gleich gestimmt", erzählt er. "Wir hatten eine hochinteressante Diskussion über Selbstbestimmung, und nach einer Stunde war der Fall klar." Noch am selben Tag stellte die Exit-Ärztin das Rezept für das Sterbemedikament aus.
Er ist erleichtert. "Ich hatte große Zweifel, ob Exit mich nimmt. Ich könnte vielleicht noch zehn Jahre leben, aber Exit hilft mir jetzt, in einem Stadium, in dem meine weitere gesundheitliche Entwicklung absehbar ist, den Weg abzukürzen." Stäheli hat bereits einen Termin für "das geordnete Einschlafen", wie er es nennt. Am 6. Juni werden er und sein Sohn mit dem Zug von Köln nach Zürich reisen. Dort hat Exit ein Sterbezimmer. Vater und Sohn bleibt nun noch eine gemeinsame Woche in Köln. Wieder steht der Abschied kurz bevor.
Am 3. Juni 2015 ein Anruf von Patrick. "Papa hat den Termin um einen Monat verschoben, auf den 4. Juli." Der Anwalt von Peter Stäheli hatte ihn in Köln erreicht und ein Problem gemeldet: Wenn Stäheli im Juni stürbe, könnte die Wohnung nicht rechtzeitig zum 1. Juli auf den neuen Eigentümer überschrieben werden, sondern fiele zunächst dem Sohn als Alleinerben zu. Peter Stäheli muss also den 1. Juli noch erleben, sonst verzögert sich alles. Dem neuen Eigentümer will er keine Probleme bereiten. "Jetzt, mit der Gewissheit, in den sicheren Tod gehen zu können, kommt es auf diesen einen Monat nicht mehr an", sagt er. Stäheli will es allen recht machen. Patrick freut sich. Er hat seinen Vater einen Monat länger. In Köln hat er ihm ein Apartment gemietet.
Mitte Juni. Einmal noch reisen Vater und Sohn in die Schweiz. Die Wohnung der Eltern ist inzwischen freigegeben. Vater und Sohn bereiten die Räumung vor. Grüne und rote Punkte kleben an den Möbeln. Was einen grünen Punkt hat, wird der neue Eigentümer übernehmen. Die wenigen Möbel mit rotem Punkt nimmt der Sohn. Den Rest wird ein Räumungsunternehmen in zwei Tagen entsorgen. Patrick Stäheli muss sich nun von seinem Elternhaus verabschieden. Von der Wohnung, in der er aufgewachsen ist. Er ist völlig am Ende, steht neben sich. Kopfschmerzen. Peter Stäheli ist bester Laune. Packt Kleidung von ihm und seiner Frau umständlich in Kartons. Jeden seiner vierzig Anzüge bestaunt der Vater ausgiebig. "Wahnsinn, dieser Anzug. Praktisch nie getragen!", ruft er aus dem Schlafzimmer. Aufgeregt kommt er mit einem schneeweißen Stoffanzug über dem Arm angelaufen: "Schaut mal. Irre. So etwas findet ihr heute nirgendwo mehr." Patrick sagt nichts. Verdreht die Augen. Ihm ist schlecht. Es bleiben ihm nur wenige Stunden, um zu entscheiden, was ihm wichtig ist und was nicht. Er hat Angst, etwas zu übersehen. Zwischendurch stößt er in Schränken und Schubladen auf kleine Nachrichten seiner Mutter. "Lieber Patrick, hier meine geliebten Sonnenbrillen. Herzlichst, Mama", steht auf einem Zettel geschrieben. Am nächsten Tag steigen er und der Vater ins Auto und fahren nach Köln.
Per Handy schickt Patrick mir Fotos aus Köln. Der Vater lachend mit dem Enkel. Oder: Vater und Sohn Arm in Arm in Köln. Momente von Glück und Harmonie. Mit Ablaufdatum. "Tief in mir habe ich noch immer die Hoffnung, dass unser Zusammensein in Köln Papa zur Umkehr bewegen könnte", sagt der Sohn am Telefon. Aber er weiß, dass sein Hoffen vergeblich ist. Der Vater macht klar: "Ich habe eine Abmachung mit der Mami." Einmal mehr bleibt dem Sohn nur der Versuch, den Sonnenuntergang zu genießen.
Samstag, 4. Juli 2015. 12.02 Uhr. Bahnhof Zürich. Ein Sommertag wie aus dem Bilderbuch. Und der letzte Tag im Leben von Peter Stäheli. Vater und Sohn steigen aus dem Zug. Im Zug haben die beiden noch ein Glas Sekt getrunken. Peter Stäheli lächelt gelöst. Die Vorstellung, dass dieser Mann an diesem Nachmittag tot sein wird, erscheint grotesk. Patrick und ich bemühen uns, Haltung zu bewahren. Auf dem Weg zu Exit suchen wir eine Parkbank. Patrick lehnt seinen Kopf an die Schulter seines Vaters. Dann drängt Peter Stäheli zum Aufbruch. In einem Haus in einem Zürcher Wohnviertel empfängt uns die Sterbebegleiterin. Noch einmal muss Peter Stäheli erklären, dass er sterben möchte. Eine letzte Unterschrift, dann gibt ihm die Sterbebegleiterin ein Mittel, das den Magen beruhigen soll. Warten, bis das Mittel wirkt. Zwanzig Minuten, die zu einer Ewigkeit werden. Peter Stäheli wirkt völlig entspannt. Dann sagt die Sterbebegleiterin, er könne nun jederzeit hinüber ins Zimmer nebenan gehen. Dort steht ein frisch bezogenes Bett. "Gehen wir", sagt Peter Stäheli. Die letzten Umarmungen. Viele Tränen. Dann reicht der Vater dem Sohn seine Brille und die Brieftasche und fischt einen Kugelschreiber aus der Hosentasche. "Den brauche ich jetzt nicht mehr." Das Glas mit dem tödlichen Mittel leert Peter Stäheli in einem Zug, auf der Bettkante. Zwei bis drei Minuten später setzt die Wirkung ein. "So, jetzt", sagt er, legt sich hin und fällt in einen komatösen Tiefschlaf. Um 14.18 Uhr ist Peter Stäheli tot. Seiner Frau hinterhergereist.
Basel, drei Wochen später. Ein sonniger Vormittag. In der Mitte des Rheins stoppt die kleine Fähre. Patrick Stäheli öffnet zwei tönerne Urnen. Die Asche von Edith und Peter Stäheli rutscht in den Rhein. Weiße Blütenblätter fallen hinterher. Vielleicht werden Asche und Blütenblätter in ein paar Tagen Köln passieren. "Hoffentlich bleiben wir nicht am ersten Brückenpfeiler hängen", hatte Edith Stäheli damals bei unserem ersten Treffen gesagt und gekichert.
Wenn Sie von Suizidgedanken betroffen sind, kontaktieren Sie die Telefonseelsorge (telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.
http://www.sueddeutsche.de/panorama/gepl...n-weg-1.2917018
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Suizidversuch per Whatsapp angekündigt
23-Jährige rast mit Kleinkind im Auto gegen Zug
Nachdem eine 23-jährige Frau ihrer Mutter ihren Selbstmord per WhatsApp angekündigt hatte, setzte sie ihren zweijährigen Sohn ins Auto und rast damit über eine Böschung gegen einen Regionalzug. Wie durch ein Wunder überlebten beide Familienmitglieder, das Kleinkind kam mit leichten Verletzungen davon. Die Polizei ermittelt nun wegen versuchten Mordes.
Am Montag gegen 22:30 Uhr, lenkte die 23-Jährige Frau ihren Wagen mit dem zweijährigen Sohn im Fahrzeug von der Bundesstraße 67 in Wildon über eine steil abfallende Böschung. Der Pkw stürzte 50 Meter die Böschung hinunter und kam quer auf einem Zuggleis zum Stillstand. Unmittelbar darauf wurde der Wagen von dem aus Leibnitz kommenden Regionalzug trotz Notbremsung des Lokführers frontal erfasst und weggeschleudert.
Die Frau wurde bei dem Zusammenprall aus dem Auto geschleudert und schwer verletzt. Der zweijährige Sohn wurde leicht verletzt. Die Bahnstrecke zwischen Leibnitz und Graz war von 22:30 Uhr bis 1:45 Uhr für den Verkehr gesperrt. Der Zug war neben dem Lokführer mit sieben Passagieren besetzt, welche laut ÖBB unverletzt blieben. Am Pkw entstand Totalschaden, am Zug schwerer Sachschaden.
Unmittelbar vor dem Unfall hatte die Frau ihren Selbstmord gegenüber ihrer Mutter über WhatsApp angekündigt, weswegen die Polizei nun wegen Mordversuchs ermittelt. Die Pkw-Lenkerin wurde schwer verletzt auf die Intensivstation des Landeskrankenhauses Graz gebracht, der Zweijährige befindet sich mit leichten Verletzungen stationär in der Kinderklinik Graz.
http://www.heute.at/news/oesterreich/23-...rt23655,1276263
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Tagung behandelt Dilemma von Ermittlern
Sterbehilfe oder nur Beihilfe zum Freitod? Suizid ist Grenzfall für Polizisten
14.04.16 08:44
Kassel. Der Erste Kriminalhauptkommissar Helmut Wetzel und seine Kollegen werden bei jedem nicht natürlichen Todesfall verständigt. Dazu gehören auch Selbsttötungen.
In Stadt und Kreis Kassel begehen 60 bis 70 Menschen pro Jahr Suizid. „Das ist oft eine schwierige Situation für die Kollegen“, sagt Wetzel. Er ist Leiter des Kommissariats 11 bei der Kasseler Kripo. „Die Hinterbliebenen haben oft ganz viele Fragen.“ Und bei all diesem Kummer müssten die Beamten dann auch noch ermitteln, ob es wirklich ein Suizid, ein Verbrechen oder zum Beispiel Tötung auf Verlangen war.
Mit Sterbehilfe habe die Kasseler Polizei bislang nicht viel zu tun gehabt, sagt Wetzel. Aber ein Fall aus dem vergangenen Jahr hat den Ermittler dazu bewogen, sich mit dem Thema Sterbehilfe und den Folgen für die Polizei näher auseinanderzusetzen: Ein 90-jähriger Mann aus Kassel wollte seinem Leben ein Ende setzen, und deshalb wurde die Polizei eingeschaltet.
Gemeinsam mit Polizeipfarrer Kurt Grützner entwickelte Wetzel die Idee, die jährliche Polizeitagung der evangelischen Akademie in Hofgeismar zu diesem Thema anzubieten. „Hilfe beim Sterben, ein Dilemma polizeilicher Todesermittlungen“ lautet der Titel der Tagung, die vom 11. bis 13. Mai am Tagungsort in Bad Zwesten stattfindet. Die Tagung richte sich nicht nur an Kriminal- und Schutzpolizisten, sondern an alle, die sich mit diesem sensiblen Thema auseinandersetzen möchten. An ihm werde deutlich, was es für Polizisten bedeute, manche Gesetze in der Praxis umzusetzen, sagt Grützner.
Helmut Wetzel
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Helmut Wetzel© Pflüger-Scherb
„Polizisten haben gerne ganz klare Regeln für ihre Arbeit, auch für jeden Grenzfall“, weiß Wetzel. Das Thema Suizid und Sterbehilfe werde aber schnell zum Grenzfall, der Polizisten in ein Dilemma bringen kann, wie der Fall aus dem Vorjahr zeige (siehe Artikel unten). Während aktive Sterbehilfe in Deutschland verboten ist, bleibt Beihilfe zum Suizid straffrei. Oft sind die Übergänge aber fließend.
„Woher soll ein Beamter denn wissen, ob ein Mensch geistig gesund ist und es seine freie Entscheidung ist, seinem Leben ein Ende zu setzen?“, fragt Wetzel. „Woher soll ein Polizist wissen, ob ein alter Mensch nicht von seinen Angehörigen zu einem Suizid gedrängt worden ist?“, wirft Grützner in den Raum. Schnell könne sich auch ein Polizist der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen, wenn er einen angekündigten Suizid nicht verhindert.
Die Tagung werde Polizeibeamten auch keine endgültige Handhabe liefern, wie sie in einem konkreten Fall von Sterbehilfe reagieren müssen, sagen Grützner und Wetzel. Das Thema soll allerdings von den verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet werden, aus medizinischer, juristischer, polizeilicher und ethischer Sicht. Zu den Referenten gehören unter anderem der frühere Justizminister Dr. Christean Wagner und Bischof Prof. Martin Hein.
Ein Fall von angekündigtem Selbstmord:
Vor welche Herausforderungen die Polizei bei einem angekündigten Suizid steht, macht der Erste Kriminalhauptkommissar Helmut Wetzel an einem Beispiel aus dem Vorjahr in Vellmar deutlich:
Ein 90-jähriger Mann, der lebensmüde, aber klar bei Verstand war, hatte über seinen Sohn Kontakt mit einem Sterbehelfer aus Berlin aufgenommen. Das erzählte der Senior auch in dem Pflegeheim, in dem er in Vellmar untergebracht war. Diese Information verbreitete sich schnell. Als der Sohn und der Sterbehelfer in dem Heim ankamen, wurde der alte Mann von der Leitung aufgefordert, sofort die Einrichtung zu verlassen, weil das Heim ansonsten in Schwierigkeiten geraten könne.
Mit dem Rollstuhl brachte der Sohn seinen Vater in seine Wohnung. Der Arzt kam mit, um dort das geplante Gespräch zu führen. Als sie in der Wohnung eintrafen, wartete dort bereits die Polizei, die von der Heimleitung informiert worden war. Es habe der Verdacht bestanden, dass eine Tötung auf Verlangen bevorsteht. Der Arzt wurde vorläufig festgenommen, im Kasseler Präsidium befragt und wieder auf freien Fuß gesetzt. Unterdessen wurde der 90-Jährige in die Psychiatrie nach Merxhausen gebracht. Dort stellte ein Arzt fest, dass der Senior keinesfalls verwirrt ist, sondern bei klarem Verstand.
Nach drei Tagen wurde er wieder entlassen und von seinem Sohn aufgenommen, der von dem Arzt die für den Suizid nötigen Medikamente und eine Anleitung bekommen hatte. Der Sohn mischte 80 gemahlene Pillen mit Apfelmus – eine Überdosis eines Medikaments, das den Herzschlag verlangsamt. Der Sohn stellte dem Vater den Brei und ein Schlafmittel auf den Tisch. Als der Vater nach einigen Minuten einschlief, verließ der Sohn mit einem Bekannten die Wohnung. Dies hatte ihm der Arzt geraten. Falls er anwesend sei, wenn sein Vater stirbt, könne er wegen unterlassener Hilfeleistung belangt werden. Als der Sohn in die Wohnung zurückkam, war der Vater tot.
Die Staatsanwaltschaft Kassel nahm gegen den Sohn Ermittlungen wegen des Verdachts der Tötung auf Verlangen auf. Das Verfahren wurde später allerdings eingestellt. Man kam zum Schluss, dass es sich um Beihilfe zum Suizid handelt. Und das ist straffrei. Den Original-Artikel zu dem Fall aus dem vergangenen Jahr finden Sie hier.
Anmeldung: Bei der ev. Akademie, Gesundbrunnen 11, 34?369 Hofgeismar, Telefon 05671/88?11?18, oder im Internet unter http://www.akademie-hofgeismar.de
http://www.hna.de/kassel/suizid-grenzfal...en-6308550.html
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Schreiben über Depression und Suizid
Der Enke-Effekt
Eine Herausforderung: Die Berichterstattung über Depression und Suizid birgt Gefahren. VON MARTIN NIEWENDICK
Geht es nach den Psychotherapeuten, sind Depression und Suizid für Journalisten heikle Themen. Da ist zum Beispiel der Fall Robert Enke. Als sich der Bundesliga-Torwart im November 2009 an einem Bahnübergang das Leben nahm, schnellte die Zahl der Nachahmer in die Höhe, immer mehr Menschen sprangen vor Züge.
Kam es in den Jahren zuvor zu durchschnittlich 2,3 „eisenbahnsuizidialen Handlungen“ pro Tag, stieg die Zahl am Todestag Enkes zunächst auf drei an und kletterte dann auf einen Höchststand von neun Vorfällen täglich. Nach eineinhalb Wochen sank die Zahl wieder, der Durchschnittswert vor 2009 wurde aber nicht mehr erreicht.
Verantwortlich dafür soll unter anderem die Berichterstattung sein. Steigt die Zahl der Beiträge und ist der Tote noch dazu prominent, lässt sich ein Anstieg der Suizide auf Bahngleisen empirisch feststellen. „Werther-Effekt“, sagen Psychotherapeuten dazu.
Am Mittwoch kamen in Berlin Journalisten zum Presseseminar „Berichterstattung über psychische Erkrankungen und Suizide“ zusammen. Eingeladen hatte die Deutsche Bahn Stiftung. Gemeinsam mit Experten und Betroffenen wurde zunächst der Begriff der Depression erörtert und deren mögliche Folge, eben der Suizid.
Pro Jahr erkranken 4,9 Millionen Menschen an einer Depression
Depression gilt als „Volkskrankheit“. Jeder fünfte Deutsche erkrankt im Laufe seines Lebens daran, pro Jahr sind es rund 4,9 Millionen Menschen. Experten gehen davon aus, dass die Mehrheit der jährlich 10 000 Suizide sowie der 150 000 Suizidversuche Folge einer nicht ausreichend behandelten Depression sind. „Betroffene nehmen einen negativen Teilaspekt ihres Lebens und stellen diesen ins Zentrum“, sagte der Psychiater Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe.
In dem Seminar wurde auch die grundsätzliche Rolle der Medien diskutiert. Was wiegt schwerer: Die gesellschaftliche Verantwortung, durch bestimmte Kriterien Suiziden vorzubeugen, oder doch die Pflicht zur umfangreichen Berichterstattung? Vor allem da herrschte Uneinigkeit zwischen den Experten und Journalisten.
Dass über nicht-prominente Suizidfälle in der Regel nicht berichtet wird, ist bereits in vielen Redaktionen Usus. Aber ein Robert Enke müsse ins Blatt, fanden die Medienvertreter, genauso wie der Germanwings-Pilot Andreas Lubitz, der seine Maschine zum Absturz gebracht haben soll.
Wenn man schon berichte, sagte Ulrich Hegerl, solle man darauf verzichten, Ort, Art und Motive der Menschen zu nennen. Auch romantisierende Phrasen wie „Jetzt hat ihre gequälte Seele endlich Ruhe“ sollten vermieden werden. 2011 hatte der Presserat die „Bravo Girl“ für die detaillierte Beschreibung eines Selbstmordes gerügt.
Alles richtig zu machen, ist im Redaktionsalltag schwer
„Selbstmord“ ist laut Hegerl übrigens ein ebenso schwieriger Begriff wie „Freitod“, da es weder ein klassischer Mord ist, noch der Tat eine völlig freie, von äußeren Umständen unbeeinflusste Entscheidung zugrundeliegt. Hegerl empfiehlt die Verwendung der Begriffe „Suizid“ oder „Selbsttötung“.
Es gibt auch Maßnahmen, die präventiv wirken können. Die Nachahmungsgefahr sinke, wenn der Suizid als Folge einer behandelbaren Erkrankung dargestellt werde, so Hegerl. Auch Expertenmeinungen und der Verweis auf Hilfekontakte seien nützlich, zudem könne man alternative Lösungen anbieten.
Im Alltag einer Nachrichtenredaktion sei das aber gar nicht so einfach, wandte ein Teilnehmer ein. Zwar könne man diese Kriterien bei einer ersten Berichterstattung durchaus unterbringen. Wenn aber, wie bei Robert Enke, wochenlang berichtet werde, könne man nicht jedes Mal Hintergrundinformationen einbringen.
Dass sich die Deutsche Bahn der Themen Depression und Suizid annimmt, ist indes kein Zufall: Im Laufe seines Berufslebens überfährt ein Lokführer durchschnittlich zwei Menschen, was wiederum zu Traumatisierungen führen kann.
http://www.tagesspiegel.de/medien/schrei...t/13517958.html
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Angehörige um Suizid
Wenn die Welt zerbricht
Bayern
14.05.2016
Familie - das klingt nach Geborgenheit, Kinderlachen, Vertrautheit, Füreinanderdasein, nach verschworener Gemeinschaft, nach einem Stück heile Welt. Aber was ist, wenn die diese Welt zerbricht? Wenn sich ein geliebter Mensch das Leben nimmt?
Mehlmeisel. "Diese funktionierende Welt droht dann oftmals zu zerbrechen. Es ist ein Schicksalsschlag, ein Schock, der die Gemeinschaft in eine schwere Krise stürzt. Nichts ist mehr wie vorher", sagt Elisabeth Brockmann. Die Sozialpädagogin ist seit 16 Jahren hauptamtliche Geschäftsführerin des Vereins Angehörige um Suizid (Agus) und Leiterin der Agus-Bundesgeschäftsstelle. Sie ist für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, koordiniert Gruppen, bildet Gruppenleiter aus und fort, ist Ansprechpartnerin für Betroffene sowie Interessierte und gerne bereit, zum "Tag der Familie" Antworten zu geben
Womit haben Betroffene am meisten zu kämpfen, wenn sie einen angehörigen durch einen Suizid verloren haben?
Elisabeth Brockmann: Alles, was richtig und wichtig erschien, kommt ins Wanken - auch das eigene Bild und das Bild des Verstorbenen. Die hinterbliebene Familie müsse oftmals im Freundes- und Bekanntenkreis gegen Schuld-Vorurteile ankämpfen: Ein Suizid kann aber in allen Familien geschehen, auch dort, wo offen und vertrauensvoll miteinander umgegangen wird.
Gibt es keine Risikogruppen, Familienkonstellationen, in denen Suizide häufiger vorkommen?
Überhebliches Gerede, wie "Bei uns kann so was nicht passieren" kann ich nicht hören. Das stimmt einfach nicht. Dieses Schicksal kann auch einen starken Familienbund treffen.
Ist es für eine große Familie leichter, mit so einem Ereignis umzugehen?
Es schweißt die Familie nicht zusammen, denn jeder trauert anders, jeder hatte eine eigene Beziehung zu dem Verstorbenen. Wenn sich Mutter, Vater, Partner, Tochter oder Sohn das Leben nehmen, kommt das Familien-Mobile ins Schwanken. Und jeder muss sich einen neuen Platz suchen. Das braucht Zeit. Oftmals werden aber Geschwister in der Trauer weniger wahrgenommen. Deshalb bietet Agus nicht nur für Eltern und Partner, sondern auch für Geschwister Seminare an.
Gibt es typische Warnsignale, die Angehörige bemerken können?
Eindeutiges Warnsignal ist, wenn jemand andeutet, dass er nicht mehr leben will oder bereits einen Suizidversuch unternommen hat. Erkennbare Warnsignale gibt es aber nicht immer. Und oft kommt der Suizid, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Oft lassen sich Verhaltensweisen des Verstorbenen erst später als Warnsignal einordnen.
Wie reagiert man, wenn man sich Sorgen um einen Angehörigen macht?
Wenn man sich Sorgen macht, dann den Angehörigen offen, direkt und konkret ansprechen: "Du, ich sorge mich um Dich. Denkst Du daran, Dir das Leben zu nehmen?" Hilfreich kann auch sein, gemeinsam Möglichkeiten zu suchen, wie das Leben lebenswert werden kann.
Wie soll man mit Menschen umgehen, von denen man weiß, dass sie einen Angehörigen verloren haben?
Genau wie bei einer anderen Todesart. Im Vordergrund steht: Es ist ein Mensch verstorben. Sprechen Sie Betroffene an, blenden Sie keinesfalls das Geschehene aus. Erinnern Sie an schöne Erlebnisse mit dem Verstorbenen, die unser Leben reicher gemacht haben. Auch in der Dankbarkeit hat er einen guten Platz.
Was ist weiterhin wichtig?
Kinder nicht belügen: Sinnvoll ist ein offenes Gespräch mit einem Elternteil oder einem Vertrauten. Die persönliche Verabschiedung von denen, die sich das Leben genommen hat. Sie sehen häufig meist friedlich aus, was tröstlich ist für die Hinterbliebenen.
Unterstützung suchen bei Menschen, die Leid mittragen helfen, bei der Kirche, beim Pfarrer, die sich um die Seele sorgen und besonders bei Menschen, die Ähnliches erlebt haben, wozu Agus mit seinen Selbsthilfegruppen einlädt und kompetente Hilfe gibt: mit kostenloser Einzelberatung, per Telefon oder per Mail - für Betroffene und für alle, die ihnen helfen möchten.
Hintergrund
Der bundesweit 800 Mitglieder zählende Agus-Verein wurde vor 20 Jahren gegründet, die Agus-Initiative vor 25 Jahren - von einer Betroffenen, die ihren Ehemann durch Suizid verloren hat und kaum Unterstützung bekam. Agus hat mittlerweile über 5000 direkte Kontakte - nicht nur von Mitgliedern.
Elisabeth Brockmann freut es besonders, dass es 60 Agus-Selbsthilfe-Gruppen gibt, vor zehn Jahren waren es noch knapp die Hälfte. "Gott sei Dank wird Suizid immer häufig thematisiert und es findet viel Aufklärung über die Hintergründe statt."
In Bayern haben sich im Jahr 2013 1727 Menschen (1258 Männer, 467 Frauen) das Leben genommen, im gesamten Bundesgebiet 10 076 (7449 Männer und 2627 Frauen). Agus ist erreichbar unter Telefon 0921/1500380, http://www.agus-selbsthilfe.de, E-Mail: agus-selbsthilfe@t-online.de
Die Suizidquote im Jahr 2013: in Deutschland bei 12,5 pro 100 000 Einwohner, Bayern 13,7 pro 100 000 Einwohner. Den höchsten Wert hatten damals Sachsen-Anhalt (16,6) und Sachsen (16,3), die nierigsten wiesen Berlin (10,2) und Nordrhein-Westfalen (9,8) auf. Quelle: Statistisches Bundesamt. (gis)
http://www.onetz.de/bayern-r/vermischtes...t-d1668540.html
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Depression: Tipps vom Mediziner
Krefeld.
Wann ist ein Mensch traurig, wann ist er depressiv?
Fragt man Dr. Andreas Horn, Direktor der Psychiatrisch-Psychotherapeutischen Kliniken und Chefarzt der Klinik für Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie am Maria-Hilf Krankenhaus, dann geht das Gefühl, unter dem Betroffene leiden, „deutlich über Stimmungsschwankungen hinaus“. Laut Horn gibt es für die psychische Erkrankung in der Regel ganz typische Symptome:
Hoffnungs-, Interessen- und Lustlosigkeit gehören dazu.
„Patienten sind nicht mehr sie selbst, machen sich Vorwürfe, viele leiden außerdem unter Schlafstörungen, ziehen sich komplett aus ihrem sozialen Umfeld zurück.“ Trauer oder Trauma durch einen persönlichen Schicksalsschlag können eine Depression auslösen. Aber auch „Umbruchsphasen“ in der Kindheit oder im Erwachsenenleben – das erste Mal Verliebtsein, Hochzeit, Geburt, der Eintritt in den Ruhestand – sowie persönliche Enttäuschungen oder Frustration im Job können Auslöser für die Erkrankung sein.
Es trifft auch scheinbar glückliche Menschen
„Der ,durchschnittliche’ Depressive hat aber eine ganz normale Lebensgeschichte“, sagt Dr. Torsten Grüttert, leitender Oberarzt der Klinik für Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie. „Man kann reich, schön, glücklich verheiratet, gesund und auf den Malediven sein – und doch schwer depressiv.“
Das Schicksal von Hilde Kramer sei daher eine für das Krankheitsbild Depression eher ungewöhnliche Geschichte. Eins hätten aber viele Betroffene gemein, betont Facharzt Andreas Horn: „Wer an einer Depression leidet, kann sich nicht selbst helfen.“
Das könne vielfach nur eine Therapie: Ob ambulant oder stationär, kognitiv-verhaltenstherapeutisch oder tiefenpsychologisch, medikamentös – das müsse bei jedem Betroffenen individuell entschieden werden. Der erste Schritt, so rät der Mediziner, sei aber in jedem Fall der zum Hausarzt, der dann, wenn nötig, eine Überweisung an den Facharzt ausstellt.
http://www.wz.de/lokales/krefeld/depress...ziner-1.2196890
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Suizid in der Familie
Im Tunnel
Vor fast 40 Jahren verlor Elke Hinkelbein ihren Vater durch Suizid. Jahrelang rang sie mit dem Verlust. Erst als sich auch ihre Schwägerin selbst tötete, begann sie, den Schmerz aufzuarbeiten.
11.06.2016, von TOBIAS RÖSMANN
Frieden gemacht: Als Jugendliche war Elke Hinkelbein oft wütend auf ihren Vater, weil der sich „Einfach verpisst hatte“. Mittlerweile erinnert sie sich aber auch an die schönen Momente.
Das Stückchen Schmirgelpapier war irgendwann verschwunden. Erst hatte es die Polizei in Gewahrsam, später wurde es zurückgeschickt, doch seit Jahren ist es unauffindbar in der Familie von Elke Hinkelbein. Besonders groß kann es nicht gewesen sein, allzu viel stand ja nicht drauf. Der Vater muss den kurzen Abschiedsgruß auf die glatte Rückseite gekritzelt haben, als er schon im Tunnel war. Als das Gute in seinem Leben keine Rolle mehr spielte. Als der Wunsch, sich auszulöschen, endgültig die Oberhand gewonnen hatte.
Das Schreckliche geschah an einem Samstag im Oktober 1977. Damals war Elke Hinkelbein zwölf Jahre alt. Sie weiß noch, dass sie mit ihrem etwas älteren Bruder in der Wohnung in Offenbach vor dem Fernseher saß. Sie glaubt, dass sie einen Western schauten, der Bruder meint, dass es etwas anderes war. „Ich gucke mal, wo Papa ist“, sagte der Bruder, als der Film zu Ende ging. Er verließ das Wohnzimmer und ging Richtung Keller. Dann herrschte kurz Stille. Wenig später gellte sein Schrei durch das Treppenhaus.
Mutter sprach von Herzinfarkt
Fast 40 Jahre später sitzt Elke Hinkelbein in einem Café in Frankfurt. Sie hat eine schöne Stimme, voller Kraft und Klarheit. Über jenen Tag im Oktober spricht die blonde, zierliche Frau ohne Gram und Tränen. Nur die Finger ihrer rechten Hand fahren hin und her über die Tischplatte. Als suchte sie Halt.
An vieles an dem Tag kann sie sich noch gut erinnern. An den Nachbarn, der vergeblich versuchte, den Vater wiederzubeleben. An den Bruder, der zurück in die Wohnung kam und ihr alles erzählte. An ihr eigenes Schreien und Wimmern. An die Beruhigungsspritze, die ihr der Notarzt gab. An das Chaos in der Wohnküche, in der Nachbarn, Verwandte und Sanitäter durcheinanderliefen. Und an den späten Abend jenes Tages. Hinkelbein saß im Auto ihrer Tante und ihres Onkels, die sich nach der Tat um sie und den Bruder kümmerten, weil die Mutter in Kur war. Durch die Heckscheibe fiel ihr Blick auf einen großen schwarzen Wagen vor dem Haus. Zwei Männer in dunklen Anzügen trugen einen Zinksarg durch die Eingangstür.
Wie Elke Hinkelbein über all das reden sollte, wusste sie lange nicht. Die Mutter verlangte, dass die Kinder in der Schule immer bloß von einem Herzinfarkt sprechen sollten. Der Suizid des Mannes war ihr peinlich. Was sollten denn die Nachbarn denken? Hinkelbein hat das schon damals nicht verstanden. „Das wussten doch sowieso alle“, sagt sie. „Aber in den Siebzigern wurde da das ganz große Handtuch drübergelegt.“
„Warum hat er mir das angetan?“
Die Narben am Unterarm des Vaters kannte sie. Dass das die Spuren eines ersten Suizidversuchs waren, ahnte sie nicht. Später versuchte er es noch einmal, mit Schlaftabletten. Wieder wurde er rechtzeitig gefunden. Der Vater, ein Schreiner, arbeitete sechs Tage in der Woche. Am Sonntag ging die Familie zusammen Mittagessen und machte anschließend einen kleinen Spaziergang.
Wenn Elke Hinkelbein zurückdenkt, war da viel Streit zwischen den Eltern. Die Mutter wurde laut, der Vater immer leiser. Meistens ging es um sein Trinken. Im Keller hatte der Vater, geboren 1930, eine kleine Werkstatt. Dort stellte er Kleinigkeiten für die Kinder her und betrank sich. Manchmal lag er reglos am Boden. Zu seiner Alkoholsucht kamen Depressionen. In den Siebzigern war das keine anerkannte Krankheit. „Da war jemand mit Depressionen ein Fall für die Klapse“, sagt Elke Hinkelbein.
Nach dem Tod des Vaters begann die Mutter zu schreiben. Sie füllte in kurzer Zeit mehr als 30 Tagebücher, in denen die Tochter immer noch hin und wieder liest. Gedankenfragmente finden sich darin, ohne jede Chronologie. Immer wieder schreibt die Mutter: „Warum? Warum hat er mir das angetan?“ Dauernd plagten sie Schuldgefühle. Es dauerte Jahrzehnte, bis sie sich zugestehen konnte, dass ihr Mann krank gewesen war.
Wut und Angst
Das Lügengebäude, das Familien errichten, um einen Suizid zu vertuschen, ist gefährlich. Es verhindert, dass die wahre Geschichte erzählt und verarbeitet werden kann. Manchmal stehen solche Gebäude für die Ewigkeit. Und auch heute noch werden immer neue errichtet. „Familien mit einem Suizid werden immer noch stigmatisiert“, sagt Hinkelbein. Weil dort, wo ein Mensch seinem Leben ein Ende setzt, das Bild der heilen Familie für alle sichtbar zerbricht. „Die Leute fragen sich: ,Was muss nur vorgefallen sein, dass der sich umbringt?‘“
Dabei sind Suizide nicht so selten, wie manche denken. 10 076 Fälle in Deutschland weist die amtliche Statistik für 2013 aus, rund drei Viertel werden von Männern begangen, etwa 100.000 Suizidversuche gibt es jedes Jahr. Hinkelbein will das Schweigen brechen, indem sie so viel wie möglich über das Tabuthema spricht. Die Gesellschaft soll sich damit auseinandersetzen, findet sie. Um die Tat ihres Vaters zu beschreiben, wählt sie immer den Satz: „Er hat sich im Keller suizidiert.“ Das schafft etwas Distanz, weil es technisch klingt. Den Suizid selbst nennt sie „das Ereignis“. „Selbstmord“ käme ihr nicht über die Lippen, weil das Wort auch „Mord“ beinhaltet und sie sich nicht als Hinterbliebene eines Mörders sieht.
Als Jugendliche war Hinkelbein oft wütend. Zornig über ihren Vater, „der sich einfach verpisst hatte“. Der ihr die Chance nahm, ihn besser kennenzulernen. Der sich nicht verabschiedete. Später, als junge Erwachsene, dachte sie in Fußgängerzonen zuweilen: „Da ist doch der Papa.“ Dabei war es immer nur irgendein anderer Mann, der ihrem Vater von hinten ähnlich sah. Zur Wut kam die Angst um die Mutter. Früher war eigentlich sie die Labilere gewesen. Wenn sie sehr gestresst war, drohte sie damit, fortzugehen und nicht mehr wiederzukommen. Sie verschwand dann für einige Stunden. Immer wieder verabschiedete sie sich mit den Worten: „Ich tu mir was an.“
Auch Schwägerin sah keinen Ausweg
Eine Therapie machte die Mutter nie. Bald nach dem Suizid ihres Mannes lernte sie neue Partner kennen. Doch nichts war für lange. „Keiner ist wie der Carlo“, klagte sie dann, wenn wieder eine Beziehung in die Brüche ging. Erst kurz vor ihrem Tod im Jahr 2001 fand sie noch einmal eine richtige Liebe. Hinkelbein, die bis vor kurzem als Fotografin gearbeitet hat und sich nun als Sozialarbeiterin um Flüchtlinge kümmert, sagt: „Das hat ihr richtig gutgetan.“
Elke Hinkelbein lebte weiter. Sie machte ihr Fachabi nach, studierte Sozialarbeit, bekam eine Tochter, zog nach Berlin, heiratete, arbeitete viel, ließ sich scheiden. Die Vergangenheit ruhte, aber begraben war sie nicht. Das merkte sie, als sie an einem Nachmittag im Jahr 2007 aus der Praxis ihres Zahnarztes kam und aufs Handy schaute. Zig verpasste Anrufe von ihrem zweiten älteren Bruder, der beim Suizid des Vaters 1977 schon ausgezogen und verheiratet gewesen war.
Hinkelbein rief zurück. Ihr Bruder teilte ihr mit, dass sich seine Frau mittags vor die S-Bahn geworfen hatte. Sie war schon lange psychisch krank gewesen. Dann war auch noch multiple Sklerose hinzugekommen. Am Ende hatte auch die Schwägerin keinen Ausweg mehr aus dem Tunnel gefunden.
Hinkelbein fuhr sofort hin. Begleitete ihren Bruder zum Bestatter. Der riet davon ab, die Tote noch einmal zu sehen. Hinkelbein fand das falsch, aber ihr Bruder wollte partout nicht. Sie sagt: „Ich plädiere dafür, dass es den Angehörigen irgendwie möglich gemacht wird, Abschied zu nehmen, auch wenn ich weiß, dass das oft heftig ist.“
Hinkelbein erinnert sich an schöne Momente
Nach dem Tod der Schwägerin kam alles wieder hoch. Hinkelbein entschied sich. Diesmal würde sie nicht wieder alles zurückdrängen, sich nicht wieder von der alten Wut und Trauer packen lassen. Vier Jahre lang machte sie eine Psychoanalyse. Die Gespräche halfen ihr sehr. Außerdem suchte sie sich eine Selbsthilfegruppe. Bei „Agus“, einem Verein für Trauernde, die einen nahestehenden Menschen durch Suizid verloren haben, fand sie, was sie schon immer gesucht hatte: Menschen, die dasselbe durchlitten hatten. „Da musste ich mich nicht erklären, da war ich zugehörig ohne Makel.“
Wenn Elke Hinkelbein heute an ihren Vater denkt, dann ist da nicht nur Wut. Sie erinnert sich auch an schöne Momente. Spaziergänge im Wald. Gemeinsames Abendbrot. Ihr Vater machte sich dazu gerne Bratkartoffeln mit Zwiebeln, von denen er die Kinder dann immer kosten ließ. An den Geschmack kann sie sich noch gut erinnern. Dazu erzählte der Vater Geschichten - vom Krieg, von der Rhön, von Dean Martin.
Ihr Bruder fand den Vater am 29. Oktober 1977 im Waschkeller des Dreifamilienhauses in Offenbach, erhängt mit einem Stromkabel. Neben dem toten Körper lag das Stückchen Schmirgelpapier. Darauf stand nur ein Satz: „Liebe Mutti, liebe Kinder, ich komme nicht wieder.“
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Selbsttötung
Die drei wirksamsten Maßnahmen, um Suizide zu verhindern
Ein internationales Expertenteam hat Daten Tausender Studien ausgewertet. Das Ergebnis: ein Drei-Säulen-Modell, das zeigt, wie sich Selbsttötungen am wirkungsvollsten verhindern lassen.
Von Thomas Müller
TEL AVIV. Schätzungsweise 1,4 Prozent aller Todesfälle gehen auf das Konto von Selbsttötungen. Unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind Suizide die zweithäufigste, in manchen Ländern sogar die häufigste Todesursache, berichtet ein internationales Expertenteam um Dr. Gil Zalsman vom Geha Mental Health Center in Tel Aviv (Lancet Psychiatry 2016; online 8.Juni).
Um die Suizidzahlen zu senken, wurden in vielen Ländern in den vergangenen zehn Jahren Studien- und Präventionsprogramme ins Leben gerufen. Das Team um Zalsman - bestehend aus 18 Präventionsspezialisten aus 13 Ländern - hat nun in einer Metaanalyse die Erkenntnisse aus knapp 1800 Publikationen zu dem Thema zusammengefasst.
Die Experten fanden 40 randomisierte kontrollierte Studien, 67 Kohortenstudien sowie 22 ökologische oder populationsbezogene Analysen. Daraus ergeben sich drei wirksame Ansatzpunkte zur Suizidprävention:
Säule 1: Suizidwege versperren
Wer den Impuls, sich umzubringen, nicht realisieren kann, weil ihm die Mittel dazu fehlen, überlegt es sich vielleicht noch einmal anders. Darauf deutet inzwischen eine ganze Reihe von Untersuchungen. "Es gibt eine klare Evidenz, dass ein erschwerter Zugang zu Tötungsmethoden die Suizidrate senkt und eine Substitution mit anderen Methoden nur begrenzt erfolgt", schreiben die Experten.
Sie fanden 30 Studien zu diesem Thema, die Hälfte davon beleuchtete die Folgen einer Schusswaffenrestriktion. Hier waren die Resultate jedoch sehr gemischt. So schienen schärfere Gesetze in einigen US-Staaten wenig zur Reduktion der Suizide mit Schusswaffen beizutragen - möglicherweise waren die Einschränkungen nicht ausreichend oder Schusswaffen bereits zu sehr verbreitet.
Dagegen machten die Schweiz, Norwegen und Israel mit restriktiveren Gesetzten gute Erfahrungen: Hier ging die Zahl schusswaffenbedingter Suizide zurück. Allerdings hatte dies keine großen Auswirkungen auf die Gesamtzahl der Suizide in diesen Ländern.
Ein substanzieller Einfluss ließ sich in Großbritannien hingegen mit einer Verkleinerung von Analgetikapackungen erzielen. Nachdem die Packungsgrößen so reduziert worden waren, dass die Zahl der Pillen für einen Suizid nicht mehr ausreichte, und besonders toxische Wirkstoffe verbannt worden waren, sank die Suizidrate um 43 Prozent.
Der Erfolg solcher Maßnahmen hängt stark davon ab, welche Methoden in einer Gesellschaft für den Suizid bevorzugt werden. In einigen Entwicklungsländern setzen suizidale Menschen auf leicht zugängliche Pestizide. Hier könnten eine besser gesicherte Lagerung, der Verzicht auf besonders giftige Substanzen sowie schärfere Zugangsregeln einen Effekt haben, allerdings gebe es dazu bislang kaum Daten.
Eine Reihe von Studien legt einen klaren Nutzen von Zugangsbarrieren zu Suizid-Hotspots nahe. Ein Beispiel ist etwa die Münsterplattform in der Schweizer Hauptstadt Bern: An der leicht zugänglichen, etwa 30 Meter über die Altstadt ragenden Terrasse wurden Netze angebracht, primär um die darunter lebenden Bewohner vor den Herabstürzenden zu schützen.
Diese Maßnahme verhinderte nicht nur weitere Suizide an dem Bauwerk, insgesamt sank dadurch die Suizidrate in Bern in den folgenden Jahren, bis sich die Kornhausbrücke als neuer Hotspot etablierte. Will jemand von einer bestimmten Brücke springen, und die ist gesperrt, dann geht er offenbar nicht sofort zu einer anderen Brücke. Der Impuls, sich zu töten, ist möglicherweise vorüber, bevor er sich ein anderes Ziel gesucht hat.
Ähnliche Erfahrungen machten auch die Behörden in San Francisco. Dort gelang es durch eine Reihe von Maßnahmen über 500 Menschen an der Golden Gate Bridge vom Sprung in den Pazifik abzuhalten. Von diesen haben sich später nur etwa 5 Prozent auf andere Weise das Leben genommen.
Säule 2: Psychiatrische Behandlung
Ein Großteil der Suizidwilligen leidet an psychischen Störungen wie Depressionen, bipolaren Erkrankungen oder Psychosen. Eine adäquate Behandlung kann das Risiko für einen Suizid deutlich senken. Gut dokumentiert ist das für pharmakologische Therapien, wobei Lithium bei bipolar Erkrankten noch immer die wirkungsvollste Option zu sein scheint. In Studien war die Suizidrate unter Lithium rund dreifach geringer als mit Valproinsäure-Derivaten, Suizidversuche traten nur halb so häufig auf.
Große Diskussionen gab es in der Vergangenheit zum Nutzen und Schaden von SSRI. Hier, so die Experten, gebe es nun eine gute Evidenz, dass die Medikamente langfristig die Suizidrate senken. Sie könnten zu Beginn der Behandlung zwar Selbsttötungsgedanken fördern, allerdings wurde in Studien zum Therapiebeginn keine erhöhte Suizidrate festgestellt.
Auch aus populationsbezogenen Studien gebe es keine Hinweise, wonach die Suizidrate mit der Verordnung solcher Medikamente steige, ganz im Gegenteil: Die Suizidrate ging in 29 europäischen Ländern mit einer stärkeren Verbreitung von SSRI zurück.
Reizthema: SSRI bei Minderjährigen
Ein heißes Eisen ist nach wie vor die Verordnung von SSRI bei Minderjährigen. Die Studienautoren sehen nach Auswertung der vorhandenen Daten jedoch keine Evidenz, nach der eine Antidepressivatherapie das Suizidrisiko in dieser Altersgruppe erhöht.
Solche Befürchtungen sollten nicht als Argument gegen eine medikamentöse Behandlung herangezogen werden. Depressive Minderjährige ohne jegliche Behandlung hätten ein deutlich höheres Suizidrisiko als solche mit Pharmakotherapie. Werde eine medikamentöse Behandlung erwogen, sollte bei Minderjährigen das in Leitlinien primär empfohlene Fluoxetin verwendet werden, schreiben die Ärzte um Zalsman.
Nun wird zumindest in Deutschland bei Minderjährigen mit Depressionen primär eine Psychotherapie empfohlen. Und diese scheint - auch bei Erwachsenen - ebenfalls Suizide und Suizidgedanken zu verhindern. Die beste Evidenz liegt für die kognitive sowie die dialektische Verhaltenstherapie vor.
Fallserien deuteten auch auf eine gute Wirkung der Elektrokrampftherapie (EKT) bei Suizidgedanken. Diese lassen sich offenbar rasch zurückdrängen. "Die EKT sollte daher nicht nur als Ultima Ratio dienen, sondern bei gefährdeten Patienten früher zum Einsatz kommen", heißt es in der Analyse.
Säule 3: Training, Screening, Hilfen
Eine weitere Säule der Suizidprävention zielt auf Ärzte und soziale Netzwerke. So können familienbasierte Therapien und Kriseninterventionen bei suizidgefährdeten Jugendlichen das Risiko für eine Psychiatrieeinweisung senken und Suizidgedanken zurückdrängen.
Bei speziellen Schulprogrammen sind die Effekte sehr uneinheitlich, in drei großen randomisierten Studien, in denen viel Wert auf Möglichkeiten zur Bewältigung psychischer Krisen gelegt worden ist, ließ sich die Häufigkeit von Suizidgedanken und -versuchen im Vergleich zu Kontrollgruppen um etwa die Hälfte senken. Dagegen haben allgemeine Awareness-Kampagnen kaum positive Effekte: Dabei nahmen zwar die Anrufe bei Prävention-Hotlines zu, die Suizidrate sank aber nicht.
Zu den wirksamsten Interventionen zählt offenbar die Schulung von Hausärzten. Mehrere Länder setzen auf Programme, in denen Hausärzte über Depressionssymptome und eine optimale antidepressive Therapie unterrichtet werden. Die bisherigen Resultate deuten auf eine deutlich rückgängige Suizidrate in den jeweiligen Modellregionen.
http://www.aerztezeitung.de/medizin/kran...verhindern.html
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Suizid als Tabuthema
Nicht totschweigen!
Jedes Jahr sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Unfälle, Gewalt und illegale Drogen. Trotzdem wird über das Thema kaum gesprochen. Experten und Betroffene fordern: Lasst uns das endlich ändern! VON ANGIE POHLERS UND MARIE RÖVEKAMP
Morgens am S-Bahnhof, Warten auf die Ringbahn: Aktentaschen, müde Gesichter, hektische Blicke auf die Uhr. Doch der Zug, der laut Anzeige längst eingefahren sein sollte, kommt nicht, der Bahnsteig füllt sich immer weiter. Dann springt die Anzeigetafel um: „Wegen eines Notarzteinsatzes kommt es derzeit zu Verspätungen.“ Die Menschen stöhnen auf, laufen los, zur Bushaltestelle. Bloß nicht wieder zu spät im Büro sein! Diese verdammte S-Bahn!
Was in diesen Momenten vielleicht ein paar hundert Meter weiter auf den Gleisen passiert, spielt für die meisten Passagiere kaum eine Rolle. Was soll schon los sein? Vielleicht ist jemand in der S-Bahn umgekippt, vielleicht hat sich einer verletzt, der noch hineinspringen wollte, als sich die Türen schon schlossen. Es passiert ja so viel.
Eine logische Erklärung? Als ob es so etwas gäbe
Es wird gern verdrängt, ist manchen vielleicht auch unbekannt: Hinter dem Begriff „Notarzteinsatz“ verbergen sich oft dramatische Unglücke. Jugendliche, die beim S-Bahn-Surfen zu Tode kommen, Menschen, die einen nahenden Zug zu spät sehen. Besonders häufig sind jedoch sogenannte Schienensuizide. Menschen nehmen sich das Leben, ein Zug ist ihre Waffe. 630 Menschen haben sich laut aktuellster Todesursachenstatistik des Bundes im Jahr 2014 absichtlich „vor ein sich bewegendes Objekt“ geworfen oder gelegt. In der Regel sind das Züge und U-Bahnen. Diese Fälle sind aber nur Teil eines größeren Problems, das in unserer Gesellschaft wenig Aufmerksamkeit bekommt. Aus Unwissenheit, aus Verlegenheit, aus Angst, es könnte häufiger passieren, wenn man darüber redet.
Das Thema Suizid taucht meist nur dann in öffentlichen Diskussionen auf, wenn ein Prominenter sich das Leben genommen hat. Dann wird wild spekuliert und getratscht. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist der Tod des Profifußballers Robert Enke im November 2009. Wochenlang waren Zeitungen, Blogs und Fernsehsendungen voller Berichte über Enke, seine Frau, Brüche im Familienleben. Es wurde bekannt, wie lange der Sportler in Behandlung war und was er in seinen Abschiedsbrief geschrieben hat. Journalisten versuchten, die Hintergründe des Suizids zu analysieren, eine logische Erklärung für Enkes Handeln zu finden – als ob es so etwas gäbe.
Berichterstattung kann die Fallzahlen steigen lassen
Häufig taucht rund um die Berichterstattung über Suizide auch der Begriff „Werther-Effekt“ auf. Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ war 1774 ein Bestseller – und ein furchtbarer Skandal. Die Fälle junger Leser, die sich mit dem tragischen Helden so sehr identifizierten, dass sie seine Selbsttötung imitierten, sollen sich seinerzeit gehäuft haben. Seither gab es zahlreiche Studien zu Zusammenhängen zwischen der medialen Thematisierung realer Fälle und regionaler oder nationaler Suizidraten. Auch deutsche Bahngesellschaften registrieren bis heute einen „Enke-Effekt“: Junge, depressive Männer, für die Enke ein Idol ist, steigen mit Fan-Schal ausgestattet auf die Gleise.
Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass Artikel und Fernsehbeiträge die Fallzahlen tatsächlich steigen lassen, weisen aber auch darauf hin, dass die Art und Weise, wie über Suizid gesprochen oder geschrieben wird, bedeutsam ist. „Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung“, heißt es im Pressekodex des Deutschen Presserates. Dass man darauf verzichten sollte, Ort, Todesart und Motive zu nennen, kam am Mittwoch auch bei einem Presseseminar der Deutsche Bahn Stiftung zur Sprache (Der Tagesspiegel berichtete). Regelmäßig spricht der Presserat Missbilligungen und Rügen aus, weil Medien Details von Suizidfällen oder Einzelheiten aus dem Privatleben der Betroffenen schildern – nicht nur bei Prominenten.
Jeder zehnte Berliner Todesfall beruht auf Suizid
Auch wir haben uns gefragt, ob diese Doppelseite falsche Signale aussenden könnte, ob sie gefährdete Menschen in ihren Suizidplänen bestärken könnte, ob wir als Journalistinnen verantwortungsvoll handeln. Was wir nicht wollten: Skandale, Gruselgeschichten, Porträts von Menschen, die sich das Leben genommen haben. Stattdessen haben wir mit acht Berlinerinnen und Berlinern gesprochen, die in unterschiedlichen Situationen mit Suiziden in Berührung kommen, aus beruflichen oder privaten Gründen. Manche von ihnen gehen das Thema kühl und analytisch an, andere emotional und leidenschaftlich. Sie alle sind Teil einer kaum sichtbaren, aber im Alltag dieser Stadt sehr präsenten Infrastruktur. Diese Menschen kümmern sich um Zeugen, sind Hinterbliebene, klären Versicherungsfragen oder betrachten Suizide aus wissenschaftlicher Perspektive. Auch sie haben Unsicherheiten und offene Fragen, aber eine gemeinsame Meinung: Über Suizid muss mehr gesprochen werden – aber richtig.
Mehr als 10.000 Menschen sterben in Deutschland jedes Jahr durch Suizid. In Berlin wurden zuletzt 341 Fälle für das Jahr 2013 registriert, jeder zehnte Todesfall war ein Suizid. Damit sterben mehr Menschen durch Selbsttötung als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten und illegale Drogen zusammen, so die Bilanz der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.
Überlebende kämpfen oft lebenslang mit den Folgen
Dazu kommen die Suizidversuche. Deren Anzahl liegt Schätzungen zufolge um ein Zehn- bis Zwanzigfaches höher, also jährlich etwa 150.000 Selbsttötungsversuche bundesweit. Die Überlebenden sind häufig verstümmelt, leiden lebenslang Schmerzen, brauchen medizinische Hilfe. Dabei geht niemand wirklich freiwillig: Depression gilt als häufigste Ursache – nicht nur im Winter, wenn es dunkel, grau und kalt ist, sondern gerade auch in der Frühlingszeit.
Depression kann wortwörtlich lebensmüde machen, und es misslingt viel zu häufig, sie zu erkennen und rechtzeitig zu heilen. Darum erleben so viele Menschen Suizidfälle im Freundeskreis, in der Familie, unter den Kollegen oder an der Uni. Es macht sprachlos, traurig, verzweifelt, wütend auf sich selbst. Hätte man nicht etwas tun können, mehr tun können? Für die Hinterbliebenen bleibt die Welt stehen, vielleicht bricht sie auch zusammen – und irgendwo kommt wieder ein Zug nicht pünktlich.
Bei einer Patientin ist Stephanie Krüger zur Beerdigung gegangen. Die junge Frau hatte eine Depression und wenig Glück in ihrem Leben. Sie wollte Jura studieren, aber das ging wegen ihrer Krankheit nicht. Sie wollte Kinder bekommen. Es sollte nicht sein. Jeden Tag erzählte sie ihrer Ärztin, Stephanie Krüger, dass sie über Suizid nachdenke, verschiedene Methoden durchgespielt habe. Monatelang wurde sie stationär behandelt. Dann ging es ihr besser. Sie wurde entlassen. Als ihre Nichte einen Monat alt wurde, ertränkte sie sich. Die Psychiaterin kannte die Geschichte der Frau, ihre Probleme, aber war überzeugt, dass sie sich nichts antun werde. „Und dann hat sie es doch gemacht. Das hat mich zutiefst erschüttert.“
Stephanie Krüger sitzt mit ihrem Kollegen Peter Bräunig in einem Konferenzraum des Depressionszentrums Berlin, das seit 2006 am Vivantes Humboldt-Klinikum existiert und in seiner Form einmalig ist. Neun Ärzte und 13 Psychologen behandeln hier Patienten tagesklinisch und ambulant. Stationär kümmern sie sich um bis zu 1500 Frauen und Männer im Jahr. Für die beiden Chefärzte ist Suizid eine Begleiterscheinung der Krankheiten, die sie therapieren. Ein Risiko, das es bei Depressionen und bipolaren Störungen gibt.
„Ich kann Suizidalität nicht wie den Blutdruck messen“
20 Prozent ihrer Patienten denken darüber nach, sich umzubringen oder haben es versucht. Es sei nicht leicht zu bewerten, wie gefährdet ein Patient ist. Was die Ärzte haben, ist letztlich nur das Gespräch. „Ich kann Suizidalität nicht wie den Blutdruck messen“, sagt Peter Bräunig. Es gebe viele Ursachen und Risikofaktoren. Meist gehe Suizid mit einer psychischen Erkrankung, mindestens mit einer Krise einher. Frauen versuchen öfter, sich das Leben zu nehmen. Die Versuche von Männern sind aggressiver und gelingen häufiger.
Noch schwieriger sei die Frage zu beantworten, wann jemand nicht mehr gefährdet ist. Manche Patienten wüssten, was sie sagen müssten, um gehen zu können. Andere wirkten gerade dann, wenn sie den Entschluss zur Selbsttötung gefasst hätten, besonders gelassen. Patienten, die sie lange kannten und behandelten, haben ihren Partner bei einem Wochenendbesuch morgens geküsst, sind aus dem Haus gegangen und nicht wiedergekommen.
Der Lebenswille als Verbündeter
Die beiden Psychiater wissen: Sie können nicht alles erkennen. Ihr größter Verbündeter ist der Lebenswille des Menschen. Und auch die Heimkehr nach einem stationären Aufenthalt ist kritisch: Die Klinik ist ein geschützter Ort. Dann geht das Leben da draußen mit all seinen Schwierigkeiten und Konflikten weiter. „Das kann deine Arbeit von drei, vier Wochen in drei, vier Minuten sehr stark relativieren“, sagt Bräunig.
Hat sich ein Patient umgebracht, besprechen die Ärzte den Fall im Team. Sie evaluieren: Habe ich etwas übersehen? „Wir müssen sichergehen, dass wir keinen Fehler gemacht haben“, sagt Bräunig. „Und wir müssen die betroffenen Kollegen entlasten.“ Aus ihrem Team sei noch niemand an einem tragischen Fall zerbrochen. Aber jeder kenne die Unsicherheit, nicht genug getan zu haben.
Keiner sprach sie darauf an, Bekannte wechselten die Straßenseite. Als Diana Dokos Bruder sich Ende der 1990er Jahre umbrachte, legte sich so etwas wie ein Fluch über die Berlinerin, niemand wollte ihr zu nahe kommen, schien es. Das Tabu des Suizids. „Ich war total erschrocken“, sagt die 43-Jährige heute. „Warum haben alle Angst, darüber zu reden? Warum wird das so unter den Teppich gekehrt?“
Ihr damaliger Kollege Gerald Schömbs machte 2001 nach dem Suizid seiner Lebensgefährtin die gleiche Erfahrung. Die beiden Kommunikationsberater wollten nicht stumm bleiben. Über Suizid, auch den junger Menschen, sollte endlich mehr gesprochen werden. „Präventionsangebote und Infos über Warnsignale und Hilfsangebote gab es für junge Leute in Berlin damals überhaupt nicht“, sagt Diana Doko.
"Suizid ist kein sexy Thema"
Zusammen mit Schömbs gründete sie den Verein „Freunde fürs Leben“. Seit 14 Jahren geben sie dem Thema eine Bühne, wollen Mythen aus der Welt schaffen, aufklären. Bei Jugendlichen ist Suizid die zweithäufigste Todesursache nach Unfällen. Und für Lesben oder Schwule zwischen 12 und 25 Jahren ist das Suizidrisiko laut einer Senatsstudie sogar bis zu sieben Mal höher als bei heterosexuellen Gleichaltrigen. Der Verein nutzt neben Plakaten, Broschüren und einer DVD vor allem Facebook und den Web-Kanal frnd.tv, um die Zielgruppe zu erreichen.
In den Onlinevideos spricht Poetry-Slammerin Julia Engelmann über Einsamkeit, der Moderator Markus Kavka unterhält sich an der Bartheke mit dem DJ Oliver Koletzki und dem Sänger Bosse über Erfolg und Suizid, Klaas Heufer-Umlauf erzählt von Depression im Freundeskreis. Der Tenor ist ernst, trotzdem wird auch rumgealbert. „Suizid ist kein sexy Thema, aber wir versuchen, jugendaffin damit umzugehen“, sagt Diana Doko.
"Wir müssen über Suizid sprechen wie über Krebs oder Aids"
Das passt nicht jedem. Kritik oder Skepsis gegenüber der Vereinsarbeit kommt vor. „Manche finden unsere Materialien und unseren Web-Auftritt zu hip und haben Angst, dass Jugendliche dadurch erst auf die Idee kommen, sich umzubringen.“ Ein großer Irrtum, glaubt die Kommunikationsberaterin. Nichts sei schlimmer als das Totschweigen. Die gefährdeten Jugendlichen wüssten sich oft nicht zu helfen, ihre Mitschüler, Freunde und Lehrer würden die Signale nicht erkennen. „In unserer Gesellschaft geht es nur ums Funktionieren, wir machen uns zu wenig Sorgen umeinander,“ sagt Doko. Grundsätzlich werde über Depression und Suizid längst nicht so offen gesprochen wie über Krebs oder Aids.
Immer wieder war der Verein in den vergangenen Jahren in Schulen, um über psychische Gesundheit aufzuklären. „Gerade in sozial schwächeren Kiezen greifen Schulen das Thema auf und laden uns ein. Suizide bei Jugendlichen passieren aber eher in wohlhabenderen Bezirken, Zehlendorf etwa.“ Dort gebe es öfter die Haltung, dass eine Depression Familienangelegenheit sei. Die Eltern hätten schnell das Gefühl, versagt zu haben, wenn der Nachwuchs ein Problem habe. Die Folge: Schweigen. Bei Familien mit migrantischen Wurzeln hat es Doko meist anders erlebt. Das Kind soll gesund werden, Hilfe von außen wird gern angenommen.
Eine Kampagne wie "Keine Macht den Drogen" fehlt noch
Im September veranstaltete der Verein mit anderen Organisationen die Aktion „600 Leben“. In Deutschland nehmen sich jährlich 600 Menschen unter 25 Jahren das Leben, Flashmobteilnehmer ließen sich deshalb am Brandenburger Tor zeitgleich zu Boden fallen. Auch Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) war da. Mehr als ein Symbol? „Ich hatte gehofft, dass die Aktion nachhaltige Auswirkungen auf die Politik hat, aber bisher ist noch nichts passiert und das frustriert mich manchmal“, sagt Diana Doko.
Regelmäßig bittet sie Politiker und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung um eine nationale Präventionskampagne. Für eine Reihe von Erkrankungen und Risiken gibt es das längst. Die Slogans „Gib Aids keine Chance“, „Mach’s mit“ oder „Keine Macht den Drogen“ sind regelrechte Klassiker. In jüngerer Zeit wurde mit „Kenn’ dein Limit“ für bewussten Alkoholkonsum geworben. Warum gibt es solche großen Kampagnen nicht für den Kampf gegen Suizid, fragt sich Doko. Gern würde sie auch ein umfangreiches Online-Verzeichnis für Hilfsangebote aufbauen. Doch das Geld fehlt. Die Arbeit des Vereins wird durch Spenden finanziert und das, was Doko und Schömbs hineinstecken. Immer wieder haben sie in den letzten Jahren überlegt, aufzugeben. Aber gegen Suizid hilft, da ist sich Diana Doko sicher, nun einmal nur eines: dranbleiben und reden.
Eine Person steht oben auf dem Balkon und droht zu springen. Unten ist ein Netz aufgespannt. Feuerwehrkollegen stehen auf der Straße, Psychologen, die Polizei. Sie alle schauen Manuel Mahnke an. Hoffen, dass er den Suizid verhindern wird. Der Feuerwehrmann versucht, etwas zu finden, das den Mann vom Springen abhält. Ihn zum Nachdenken anregt. Hat er Kinder? Ja. Wie alt sind sie? Wie traurig würden sie sein, wenn er nicht mehr da ist? Er muss nicht verstehen, warum der Mann da oben steht. Er versucht aber, sich in ihn hineinzuversetzen und ihm das Gefühl zu geben, dass er ihm zuhört, ihn wirklich ernst nimmt.
Manuel Mahnke, 34, ist bei der Freiwilligen Feuerwehr Wedding. Einmal in der Woche hat er Dienst. Deswegen hat er nicht so oft mit einem versuchten oder vollzogenen Suizid zu tun wie Kollegen, die jeden Tag rausfahren. In Berlin bringt sich laut offizieller Statistik jeden Tag ein Mensch um. Manuel Mahnke ist auch Soldat, arbeitet im Bundeswehrkrankenhaus als Psychiatriekrankenpfleger und gehört zum Nachsorge-Team der Feuerwehr. Springt ein Mensch tatsächlich, betreuen zunächst diese ausgebildeten „Ersthelfer“ jene Kollegen, die das miterlebt haben. Es sei bewiesen, dass traumatische Einsätze so besser verarbeitet werden. Leiden Feuerwehrleute noch nach einigen Wochen, hilft dann eine Psychologin.
Manche Bilder verschwinden nicht
In Berlin, wo die S- und U-Bahn fährt, sind Einsätze bei Suiziden auf Bahnschienen nicht selten. Manuel Mahnke spricht dann zuerst den Zugführer an. Manche reagieren kühl und professionell, andere sind wie gelähmt. Warum war der da? Ich hab doch gebremst! Danach geht es um technische Fragen: Ist der Strom abgestellt? Der Bahnverkehr gestoppt? Manuel Mahnke hilft, den Leichnam aus dem Gleisbett zu heben, ihn transportfähig zu machen. „Obwohl so viel passiert, wenn wir von dort aus arbeiten, ist ein Bahnhof nach so einem Fall ganz gespenstisch still“, erzählt er. Der Job, sagt Mahnke, sei belastend. Die Dienste lang und anstrengend, Beziehungen gingen zu Bruch. „Mit den Jahren sieht und erlebt man eine Menge“, sagt er. Er achtet darauf, nur die Bilder mitzunehmen, die er wirklich braucht. Die notwendig sind. Es werden mit den Jahren sonst zu viele. Und manche Bilder verschwinden nicht mehr. Wie bei ihm das Gesicht eines Toten.
„Erinnert ihr euch an eure erste Trennung? An dieses Gefühl, dass der Liebeskummer nie mehr weggehen wird? Jetzt versucht euch mal vorzustellen, ihr wart 30 Jahre lang verheiratet, habt Kinder, ein Haus gebaut, Schulden aufgenommen – und dann geht eure Frau. Könnt ihr euch jetzt vorstellen, was Verzweiflung ist?“ Neben seinem Dienst unterrichtet Manuel Mahnke an der Feuerwehrschule. Wenn ihm dort 18-Jährige gegenübersitzen, jung, lebenshungrig, versucht er, sie mit diesem Vergleich abzuholen. „Wer zur Feuerwehr geht, denkt daran, Brände zu löschen und Menschen zu helfen. Er denkt erst mal nicht über Suizid nach.“ Mahnke weiß noch, wie er damals, noch nicht lange bei der Feuerwehr, zum ersten Mal auf einer offenen Bahnstrecke stand. Jemand war vor einen Zug gesprungen. Es war Nacht, neblig, das Licht der Laternen schummrig. Eine düstere Stimmung.
Mehr Suizide als Brandopfer und Verkehrstote
Manuel Mahnke nennt seinen Schülern Fakten: In Berlin gibt es im Jahr knapp 40 Morde, 30 bis 40 Verkehrstote, ebenso viele Brandtote, und mehr als 300 Suizide. Die Versuche nicht mitgezählt. Er versucht, sie vorzubereiten. Auf Grenzmomente und Bilder. Was sie am ehesten erwarten wird, sei ein Sprung aus der Höhe, vor ein Fahrzeug oder ein Suizid durch Erhängen. „Das ist ein so unnatürlicher Anblick, dass man sich das nicht vorstellen kann“, sagt Mahnke. Für ihn ist ein Suizid vor allem die Entscheidung, das eigene Leben, so wie es war, hinter sich zu lassen. Aufhören zu atmen, wirklich sterben – das wolle der Mensch, der sich umbringen will, vielleicht gar nicht. Er wolle aber eine Situation beenden oder ein Gefühl, das für ihn zu schmerzvoll ist.
Uwe K. war mit einer Lok unterwegs, um einen Zug abzuholen. Die Schranke am Bahnübergang war zu, das rote Blinklicht leuchtete. „Plötzlich stand mitten im Gleis eine Person, die sich halb zur Lok umwandte.“ Uwe K. heißt eigentlich anders. Genau genommen hat er unzählige Namen, denn er ist nur ein Fallbeispiel aus einem Heft, das die Deutsche Bahn an ihre Mitarbeiter verteilt. „Psychisch belastende Situationen bewältigen“ steht darauf, auf 36 Seiten geht es um Unfälle, Angriffe auf Bahnpersonal und auch um sogenannte Schienensuizide. Rund 700 mal pro Jahr machen Lokführer in Deutschland die gleiche Erfahrung wie Uwe K., manchmal sind es Unfälle, oft sind es keine.
Christian Gravert leitet seit 2003 das Gesundheitsmanagement des Konzerns und kümmert sich auch um das Thema Suizid, das vom Fernverkehr bis zur Berliner S-Bahn eine Rolle spielt. Die Bahn bietet das Mitarbeiterheft, Notfallmanager, die sich vor Ort um alles kümmern, Vertrauenspersonen aus dem Kollegenkreis und Psychologen. Viele angehende Lokführer sind sich kaum bewusst, dass sie mal einen Zug fahren könnten, der über einen Menschen rollt. Statistisch gesehen passiert das in 40 Berufsjahren etwa zwei bis drei Mal, rechnet Christian Gravert vor. „Man kann nicht ständig darüber nachdenken, wenn man mit Tempo 200 unterwegs ist.“ Aber man sollte eine Vorstellung davon haben.
Kein Lokführer darf danach weiterfahren
Darum gibt es eine „Stressimpfung“: Während der Ausbildung schauen sich Lokführer Aufnahmen von Schienensuiziden aus Überwachungskameras an und reden darüber, was zu tun ist, wenn ein Fall eintritt. Klares Denken wird schwierig sein, alles muss automatisch ablaufen. Unfallstelle sichern, Hilfe rufen, mit dem Zugbegleiter sprechen. Dann warten, bis Rettungswagen und Polizei eintreffen. „Das ist besonders belastend für viele Lokführer: Blaulicht, Hektik, die Fragen der Polizisten“, sagt Gravert. Schließlich kommt die Ablösung. Kein Lokführer darf nach einem Schienensuizid weiterfahren.
Ein Schock ist nicht ungewöhnlich. „Man kann sich wirklich wie verrückt fühlen. Sie übergeben sich, bekommen Verdauungs- und Kreislaufprobleme, können nicht mehr schlafen.“ Normale Körperreaktionen, erklärt der Mediziner Gravert. Die Lokführer bleiben ein paar Tage zu Hause, kommen zur Ruhe. In der Regel geht es ihnen schnell besser. „Das Gehirn hat manchmal erstaunliche Heilungskräfte.“ Gravert kennt Lokführer, die schon mehrere Suizide miterlebt haben und damit zurechtkommen.
Nur in Einzelfällen wechseln die Lokführer ihren Job
Andere aber erleiden eine posttraumatische Belastungsstörung. „Wenn es nicht mehr aufhört, dass der Zugführer daran denkt, Herzklopfen und Angst kriegt, sind die Emotionen im Gehirn falsch verschaltet“, sagt Mediziner Gravert. Der Moment wird im Nachhinein als unendlich lang empfunden, manche fühlen sich als Täter, obwohl sie zum Instrument gemacht wurden. Bei jährlich etwa 30 von insgesamt 20 000 Lokführern der Deutschen Bahn reicht dann auch keine therapeutische Hilfe. Sie wechseln die Stelle, arbeiten etwa im Innendienst, sagt Christian Gravert. „In Einzelfällen gehen Mitarbeiter vorzeitig in Rente.“
Jeden Tag setzt Frithjof Laaser, 52, aus Erzählungen ein Leben zusammen. Er fragt Trauernde, wer der Verstorbene war und was er gemocht hat. Ob er die Welt bereist hat oder lieber in seinem Garten saß. Er fragt sie, wie derjenige gestorben ist. Ob es ein Alterstod war, ein Unfall, ein Suizid. Und versucht dann die Worte zu finden, die den Hinterbliebenen fehlen.
Seit 20 Jahren ist Laaser Trauerredner in Berlin. So wie sein Vater. Eigentlich hat er Lehramt studiert. An diesem Dienstagmittag trägt er einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd. Nach dem Gespräch muss er direkt los, zu einer Beerdigung. Im ganzen Jahr werden es wieder mehrere Hunderte sein, und manchmal, nicht sehr oft, hat der Verstorbene seinen Tod selbst gewählt. So wie kürzlich. Ein 28-Jähriger war von einem Hochhaus gesprungen. Warum, weiß niemand. Nicht seine Eltern, nicht seine Freundin. Sie haben keine Antworten, nur Fragen.
"Jedes Leben ist reich gewesen"
Um sich ein Bild von dem Menschen zu machen, den er in seiner Rede nachzeichnet, trifft er sich mit den Angehörigen. Mal eine Stunde, mal zwei, mal mehr. Aus ihren Erzählungen setzt er ein Puzzle zusammen. Möglichst so, dass die Gäste der Trauerfeier den Verstorbenen darin wiedererkennen. „Bei einem Suizid frage ich die Angehörigen zuerst, wie ich damit umgehen soll, und ob ich das überhaupt thematisieren darf“, sagt er. Bei einem Familienvater sitzen Kinder im Raum, die davon vielleicht nichts wissen. Oder es sind Kollegen, Nachbarn, eingeladen, die nichts wissen sollen. Kann er darüber sprechen, sagt er vorsichtig: „Er hat eine Entscheidung getroffen, die man vielleicht nicht verstehen kann“. Oder: „Sie hat über ihr Leben verfügt.“
Seine Arbeit, sagt Frithjof Laaser, ist eine einzige Ausnahmesituation. Der Tod habe immer etwas Überforderndes. Vor allem, wenn er plötzlich kommt, und sich die, die zurückbleiben, nicht verabschieden konnten. Bei einem Suizid kämen oft noch Schuldgefühle hinzu: Hätte ich doch besser zugehört. Wäre ich öfter dagewesen. „Es ist einfacher, wenn jemand ein bestimmtes Alter erreicht hat“, sagt er. „Und wenn der Mensch glücklich war.“ Wenn es Verwerfungen gab, Brüche, ist es für ihn schwieriger, den richtigen Ton zu treffen. „Ich versuche aber auch dann, von Eigenschaften und Momenten zu erzählen, an die sich die Trauernden gerne erinnern“, sagt er. „Selbst wenn es Probleme gegeben hat, ist jedes Leben doch so reich gewesen.“
Wie viel ist ein Leben wert? 100 000 Euro? Drei Millionen Euro? Bei Risikolebensversicherungen geht es eigentlich um die, die zurückbleiben. Mit der Trauer, dem Schmerz – und mit Geld, wenn der Versicherungsschutz greift. Kai Schreiber ist seit 1998 Abteilungsleiter bei der Deutschen Lebensversicherungs-AG, einer Tochtergesellschaft der Allianz. Rund zehn seiner 70 Mitarbeiter kümmern sich von den Treptowers am Spreeufer aus um die Bearbeitung von Todesfällen in ganz Deutschland. „Selbsttötungen machen bei uns nur einen kleinen Teil der Todesursachen aus“, sagt er. Es klingt sachlich, nüchtern. Das erfordert seine Arbeit.
Die Versicherungsmitarbeiter sprechen mit trauernden Hinterbliebenen, die vielleicht auch Angst um ihre Existenz haben, etwa wenn der Hauptverdiener einer Familie gestorben ist. Schulungen helfen Schreibers Mitarbeitern, ein Gefühl für den richtigen Umgang zu entwickeln. „Sie müssen Empathie und Verständnis zeigen, dürfen die Situation aber nicht zu nah an sich heranlassen.“ Wer keine Distanz wahren kann, etwa wegen ähnlicher eigener Erfahrungen, muss den Fall abgeben. Kein Kollege kümmert sich ausschließlich um Todesfälle. Es wäre zu belastend, sagt Schreiber.
Scham, Schuldgefühle, Misstrauen - Angehörige sind nicht immer kooperativ
Nur in den ersten drei Jahren nach Vertragsschluss überprüfen Anbieter von Risikolebensversicherungen die Todesursache eines Versicherungsnehmers. Das Gesetz sieht vor, dass Suizide in dieser Phase den Schutz aufheben – „Selbsttötungsklausel“ heißt das im Versicherungsdeutsch. „Das hat auch den Hintergrund, dass sich niemand umbringen soll, weil etwa seine Familie in finanziellen Schwierigkeiten steckt.“ Zwei Ausnahmen gibt es aber, dann zahlt die Versicherung: Wenn der Kunde wegen einer Geisteskrankheit, etwa Schizophrenie, nicht bei Sinnen war. Oder wenn er eine schwere Krankheit hatte, alle Hoffnungen auf Genesung vergebens waren. Gibt es Anzeichen dafür, dass manche Menschen mit ihrem Suizid warten, bis die drei Jahre vergangen sind? „Wir stellen keinen Anstieg von Suizidfällen nach Ablauf der Frist fest.“
Ereignet sich ein Tod innerhalb der ersten Jahre, lassen sich Schreibers Mitarbeiter den ärztlichen Bericht kommen, außerdem gegebenenfalls die polizeiliche Ermittlungsakte. Darin würde sich auch der Abschiedsbrief befinden, wenn es einen gibt. Damit wäre die Situation schon recht eindeutig. Wenn es nicht so leicht ist, fangen die Sachbearbeiter an zu ermitteln, sie sprechen mit Ärzten, Therapeuten, der Familie. Bei Suiziden, sagt Versicherungsmann Schreiber, sind die Angehörigen nicht immer kooperativ. „Das Thema ist noch immer mit viel Scham belastet, hinzu kommen oft Schuldgefühle – und, ja, auch ein gewisses Misstrauen gegenüber Versicherungen.“
War die hohe Dosis Absicht oder Versehen?
Sind sich Hinterbliebene und Versicherung nicht einig, kommt es zum Streit. Wer recht hat, ist manchmal schlicht nicht festzustellen. Schreiber erinnert sich an den Fall eines Kunden, der nach einer Überdosis Tabletten innerhalb der Dreijahresfrist gestorben war. „Es gab wirtschaftliche und familiäre Probleme, aber da war kein Abschiedsbrief.“ Die Tabletten waren dem Mann verschrieben worden, er hatte sie offenbar betrunken eingenommen. War die hohe Dosis Absicht oder Versehen? Schreiber glaubte nicht an einen Unfall, die Angehörigen beharrten darauf. Man einigte sich schließlich auf die Auszahlung der Hälfte der Versicherungssumme.
Wahrscheinlichkeiten, Geld, große Summen, Prozess- und Anwaltskosten – auch das kann zu einem Suizid gehören. „Wir sind Lebensversicherer. Wir kalkulieren eine Prämie, der eine gewisse Sterblichkeit zugrunde liegt“, sagt Schreiber. Heißt konkret: Die strenge Prüfung der Todesumstände ergibt manchmal eben auch, dass die Versicherung zahlen muss. Ein lohnendes Geschäft ist es trotzdem. Und ob die Unternehmen im Zweifelsfall nachgeben, ist oft einfach eine Frage der Wirtschaftlichkeit.
Als ihr Freund sich das Leben nahm, dachte sie, das tut zu weh. Darüber werde ich nie hinwegkommen. Deswegen weiß sie, wie die Teilnehmer ihrer Selbsthilfegruppe sich fühlen. Was es heißt, so sehr zu vermissen, dass man selbst kaum aufstehen kann.
Seit 2010 leitet Patricia Gerstendörfer, 43, einmal im Monat eine offene und eine angeleitete Gruppe für Hinterbliebene, wie sie der Verein AGUS bundesweit organisiert. Manche kommen regelmäßig, seit Jahren, andere nur ab und zu. Wer möchte, kann auch allein mit ihr sprechen. Hauptberuflich ist Gerstendörfer Sonderpädagogin. Nach ihrem Verlust machte sie dann Weiterbildungen zur Trauerbegleitung, in Traumapädagogik und Traumatherapie, und eine Ausbildung zur psychotherapeutischen Heilpraktikerin.
Sie kann den, der fehlt, nicht zurückbringen
Was Gerstendörfer wichtig ist: Die Trauernden müssen den Verstorbenen in ihren Gedanken nicht loslassen, sondern können eine Form innerer Beziehung zu ihm aufbauen. „Ich kann und will den Menschen doch nicht auch noch aus meinem Herzen und meinen Erinnerungen verbannen“, sagt sie. Was sie aber auch weiß: Ihre Hilfe ist nur die zweitbeste Lösung. Sie kann den Menschen nie das geben, was sie sich wünschen. Sie kann ihnen den, der fehlt, nicht zurückbringen.
Ihre Arbeit in den Gruppen braucht Zeit. Da seien so viele Schuldgefühle, da sei so viel Wut und Traurigkeit. Und so lange halte die Hoffnung, der oder die Verstorbene komme bald zur Tür wieder hinein. In der offenen Runde fragt Patricia Gerstendörfer nur, worüber die Teilnehmer an diesem Abend reden möchten. Mehr nicht. Bei den angeleiteten Treffen bringen die Teilnehmer Bilder derer mit, die gestorben sind. Sie erzählen, wie es ihnen geht, was für Träume sie hatten. Sie gehen die letzte Begegnung noch einmal durch, schreiben dem Toten einen Brief. Patricia Gerstendörfer erklärt ihnen die unterschiedlichen Trauerphasen, vom Nicht-Wahrhaben-Wollen bis zur Akzeptanz des Verlusts. Wenn ein Mann, der seine Frau verloren hat, sich irgendwann neu verliebt, freut sie sich.
"Nicht zu viel grübeln"
Nach dem Suizid ihres Freundes hat Patricia Gerstendörfer eine Therapie begonnen und eine Selbsthilfegruppe besucht. Sie hat Antworten gesucht, auf die Frage, was wohl nach dem Tod passiert. Sie macht ihre ehrenamtliche Arbeit, weil sie so etwas Gutes, etwas Sinnstiftendes tun kann. Es hilft aber auch, nicht zu viel zu grübeln. Die eigenen Tage voll zu bekommen. „Jeder sollte so über sein Leben bestimmen, wie er es möchte“, sagt sie. Es sei nur schlimm, wenn sich der Mensch für den Tod entscheide, den man so lieb gehabt hat.
Zehn Jahre lang hat er über Suizid geforscht, hat Abschiedsbriefe gelesen und mit jenen gesprochen, die zurückgeblieben sind. Er hat das Buch „Über Suizid. Ein Berlin-Buch“ geschrieben und im vergangenen Jahr veröffentlicht (Panama Verlag, 19,90 €). 308 Seiten ist es dick. Die Frage, warum sich jemand umbringt, kann Falk Blask trotzdem nicht beantworten.
Wie er auf das Thema kam? Ein Freund hatte sich im Kinderzimmer erhängt. Ohne einen Brief zu hinterlassen. Die Frau des Toten wusste nicht, ob sie es den Kindern sagen sollte, und tat es nicht. Weil Falk Blask die Frage nicht losließ, ob die Entscheidung richtig war, begann er, sich mit dem Thema Suizid zu beschäftigen. Es gab wenig Literatur.
Die Studenten reizte das Thema - oder sie waren selbst betroffen
Deswegen entschied sich der Ethnologe, der an der Humboldt-Universität arbeitet, selbst ein Seminar zu geben. Es war angelegt für 15 Teilnehmer. Zur ersten Sitzung saßen hundert Studenten im Flur. Manche waren betroffen, andere reizte das Thema, weil es tabuisiert ist. „Es war das beste Seminar, das ich gegeben habe“, sagt er. „Eigentlich war um 18 Uhr Schluss. Wir hörten nie vor 20 Uhr auf.“
Wissenschaftliche Bücher analysieren Suizid aus historischer, soziologischer oder psychologischer Sicht. Dem Ethnologen Blask ging es um die Alltäglichkeit des Phänomens. Denn: „Suizid passiert zu jeder Zeit, an jedem Ort und in jedem Milieu einer Gesellschaft.“ Verortet in Berlin, finden sich in seinem Buch persönliche Geschichten, Abschiedsbriefe, Interviews mit Hinterbliebenen und Gespräche mit Menschen, die berufsbedingt mit dem Thema zu tun haben. Aus den Ergebnissen konzipierte er mit den Studierenden auch eine Ausstellung im Medizinhistorischen Museum der Charité. Im Garten der Psychiatrie, wo Depressive versuchen, die Sonne zu genießen. Die Seminarteilnehmer organisierten Vorträge und Diskussionsrunden.
"Ich habe nicht die Erwartung, es zu verstehen"
Bei einer der Veranstaltungen kam ein Mann in einem Rollstuhl auf die Bühne. Im Scheinwerferlicht sah man eine riesige Narbe an seinem Hals, und mit einer kräftigen, knarrenden Stimme begann er, ein Gedächtnisprotokoll vorzulesen, das in dem Buch von Falk Blask abgedruckt ist. Über seinen Versuch, sich zu töten und wie er ihn im letzten Moment abbrach. Ein Student protestierte. Das sei zu viel! Der Mann auf der Bühne sah ihn an: Darüber zu sprechen sei seine Strategie, den Abend und die Jahre davor zu verarbeiten. Als er zwölf war, erzählten ihm seine Eltern: Sie hatten vor seiner Geburt gewusst, dass er behindert auf die Welt kommen würde. Sie entschieden sich für ihn. Nicht aber aus Liebe. Sie wollten dafür das Sozialgeld bekommen. „Tiefer unter die Haut kann eine Situation nicht gehen“, sagt Falk Blask.
Während der Ethnologe sich durch Archive wühlte, stieß er auch auf den Brief eines Menschen, der sich selbst tötete, weil er so glücklich war. Er fuhr mit dem Auto eine Straße entlang, dachte sich, so perfekt wie jetzt wird es nie wieder sein – und beendete deswegen wenig später sein Leben. In einem anderen letzten Schreiben erklärte ein 20-Jähriger, er wolle sehen, wie es auf der anderen Seite aussieht. Das Leben langweile ihn. Diese beiden Geschichten schienen Falk Blask so irrational, dass sie ihn von der Erwartung befreiten, einen Suizid zu verstehen.
Egal, wie traurig und hoffnungslos man ist: Das eigene Leben zu beenden, ist nie die richtige Lösung. Besser, man spricht so schnell wie möglich über die Situation und holt sich Hilfe.
Die gibt es rund um die Uhr, auch anonym, bei der Berliner Telefonseelsorge (Tel. 0800 1110111). Der Berliner Krisendienst (Tel. 3906300) ist telefonisch ebenfalls immer erreichbar und mit neun persönlichen Anlaufstellen präsent.
Speziell an Jugendliche richtet sich das Beratungsangebot von Neuhland, von 9 bis 18 Uhr erreichbar unter Tel. 8730111. Der Verein hat drei Beratungsstellen und bietet Wohngruppen an. Der Verein Jungundjetzt ermöglicht eine anonyme und kostenlose Online-Beratung.
http://www.tagesspiegel.de/berlin/suizid...519722-all.html
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Hinterbliebene nach Suizid „Papa, warum hast du dich erschossen?“
Von
Lisa Harmann
01.07.16, 10:34 Uhr
Erstmal einen Kaffee! Es ist der 6. Juli im Jahr 2008, die Sonne scheint in Kritzendorf in der Nähe von Wien. Saskia, damals 27, und verliebt, steht in einem Coffeeshop. In ihrer Hand hält sie einen Becher mit doppeltem Espresso und einem Schuss Milch, als ihr Handy klingelt. Ihre Mutter ruft an: „Papa hat sich erschossen.“
Der Anruf teilt Saskias Welt in ein Vorher und ein Nachher.
Erschossen. Erschossen? Der Kaffeebecher in Saskias Hand wird schwer. Sie schnappt nach Luft. Sie liebt Kaffee, aber diesen trinkt sie nicht mehr. Überhaupt wird sie, die Kaffeeliebhaberin, nie mehr einen Kaffee anrühren ab diesem Tag. Ihr ganzes Leben wird sich verändern.
Wie soll ich mit dem Wissen um das, was geschehen ist, weiterleben?
Gestern war doch noch alles ok, heute steht die Welt Kopf. „Plötzliche Verluste brauchen meist eine längere Verarbeitungszeit, da es so unbegreiflich ist“, sagt Mechthild Schroeter-Rupieper, Trauerbegleiterin und Gründerin von Lavia – dem Institut für Familien-Trauerbegleitung aus Gelsenkirchen. „Trauernde Angehörige nach einem Suizid werden oft durch den Tod überrascht oder erschreckt, erst recht, wenn es auf eine scheinbar brutale Weise erscheint.“
In Deutschland sterben jährlich rund 10.000 Menschen durch Selbsttötung. Das sind mehr, als durch Autounfälle ums Leben kommen. Fast jeder kennt jemanden, der jemanden durch Suizid verloren hat. Den direkten Angehörigen können in dieser Zeit die Familie und der Freundeskreis, helfen. Menschen, die nicht hinterfragen, sondern da sind und sich den Fragen stellen.
Sie rief ihn, bekam aber keine Antwort
Saskias Vater liebte Gewitter. Es donnerte, als ihre Mutter ihn am Abend in ihrem Haus im österreichischen Südburgenland nicht fand. Sie war gerade von einem Konzert zurückgekommen, sie rief ihn. Es regnete. Keine Antwort.
Da lag ihr Vater schon seit etwa einer Stunde tot im Hof. Sie fand ihn draußen, fast stolperte sie über ihn. Er lag unter seinem Lieblingsbaum im Garten. Er hinterließ einen Post-it Zettel für die Familie. Seine letzten acht Worte.
Ein Abschiedsbrief kann den Hinterbliebenen helfen, mit dem Geschehenen umzugehen. „Trotzdem wird kaum ein Angehöriger sagen: ´Ach so! Ja klar, ich verstehe...´", sagt Schroeter-Rupieper. Erschossen. Tot. Unglaublich.
„Ich will kein Leben, in dem er nicht mehr da ist.“
Cover Papa hat sich erschossen
Saskia Jungnikl: Papa hat sich erschossen, Fischer, 14,99 Euro.
„Ich will kein Leben haben, in dem ich nicht genau weiß, warum mein Vater tot ist“, schreibt Saskia in ihrem beeindruckend klaren und eingängigen Buch „Papa hat sich erschossen“. „Ich will überhaupt kein Leben haben, in dem er nicht mehr da ist.“
Ihre Gefühle reichen in diesen Tagen von Angst, Zweifel, Schuld über Trauern, Sehnsucht, Verwirrung und dem Gefühl, „furchtbar vor den Kopf gestoßen worden zu sein.“ Der Tod erscheint ihr so unvorstellbar. Er? Jetzt? Warum?
Warum hat er es nicht länger ausgehalten? Warum hat er keine Hilfe angenommen? Warum hat er nichts gesagt? Warum war meine Liebe nicht ausreichend? Diese Fragen stellen sich Angehörige. Das dürfen sie auch. Zunächst.
Die Frage nach dem Warum
„Aber wenn man immer beim Warum und eigenen Schuldvorwürfen und Schuldzuweisungen hängen bleibt, wird Trauerarbeit schwerer gelingen“, erklärt Schroeter-Rupieper. „Erst wenn ich akzeptiere, dass ich für mich die Warum-Frage nicht befriedigend erklären kann oder wenn ich tatsächlich eine Antwort selber finde, werde ich nicht weiter nachforschen.“
Was den Hinterbliebenen helfen kann
Vielen Angehörigen hilft es, sich mit dem Suizid zu befassen um die Trauer besser bewältigen zu können. Auch Saskia macht sich auf die Suche nach Antworten. Sie recherchiert, sie schreibt – erst einen Artikel, dann ein Buch. Aber sie hat auch Renate, ihre Freundin aus Kindheitstagen, die immer für sie da ist.
Der Austausch mit Freunden, mit der Familie, mit Menschen, die zuhören, kann den Hinterbliebenen helfen. Und: Sich selbst zu stärken und zu stabilisieren, damit man auf negative Reaktionen von außen nicht empfindlich oder empfänglich reagiert.
Der Suizid als Nebenwirkung einer Krankheit
„Auch der Austausch mit anderen Betroffenen kann helfen, da die meisten Suizide eine Vorgeschichte – etwa Depressionen oder Psychosen – haben“, sagt Schroeter-Rupieper. „Wenn Angehörige verstehen, dass der Suizid eine Nebenwirkung einer Krankheit oder Verhaltensstörung ist, dann können sie den Tod eventuell anders akzeptieren.“
Es war ein Unfall, es war eine schwere Krankheit, es war Schicksal. Es gibt viele Wege, mit denen sich Angehörige den Tod später erklären oder ihn für sich ertragbarer machen können. „Den Suizid einen Freitod zu nennen, ist daher nicht der richtige Begriff. Die Maßnahmen, die wir Menschen in Notsituationen ergreifen, geschehen eben aus einer Not, nicht aus einer Freiheit heraus.“
Lernen, mit der Situation zu leben
Auch Saskia hat sich viel mit dem Tod ihres Vaters beschäftigt. Für sie ist dadurch zwar längst nicht alles gut geworden. Wohl aber hat sie gelernt, mit der Situation zu leben. Und eins, das hat sie sich vorgenommen:
„Ich werde mich nie erschießen. Ich glaube, wer einmal gespürt hat, was ein Suizid für die Hinterbliebenen bedeutet, wird sich selbst nicht töten. Als mein Vater sich in unseren Hof gelegt und in den Hinterkopf geschossen hat war das der größte Vertrauensbruch überhaupt. Ich weiß, dass er auch dachte, er ist uns eine Last, und ich weiß, dass er angenommen hat, wir wären sicher ein paar Monate traurig, aber dann erleichtert. Er hat noch nie so falsch gelegen.“
Hier finden Gefährdete, Angehörige und Hinterbliebene Hilfe:
Selbsthilfe für Hinterbliebene nach Suizid eines Angehörigen bietet der Verein AGUS.
Das Lavia Institut bietet Familientrauerbegleitung an.
Notfallseelsorge bietet die bundesweite Beratungsstelle für Suizidgefährdete, auch als Suizid-Prävention: 0800-1110111 oder 0800-1110222
http://www.express.de/ratgeber/familie/h...ssen---24319450
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Suizid kann jede Familie treffen
Es gibt Zeichen, die auf ein Suizidrisiko hindeuten, sagt Konrad Michel (68), Psychiater und Experte für Suizidprävention. Doch diese sind schwer zu erkennen.
Konrad Michel, was machen hinterbliebene Angehörige nach einem Suizid durch?
Die ewige Frage, was in dem Betroffenen vorgegangen ist, quält sie. Angehörige geben sich Mitschuld, empfinden aber auch Wut. Ein Gefühl, das die meisten verschweigen. Manche werden selbst suizidal.
Weshalb mischen sich die Gefühle?
Jeder Suizid hat unterschiedliche Aspekte. Suizidale Menschen leiden meistens an sich selber. Für Angehörige ist ein Suizid aber oft auch ein egoistischer Akt. Der Betroffene denkt in dem Moment nur an sich und nicht an die Folgen für die Umgebung. Das ist für Angehörige oft nicht nachvollziehbar und kann sehr verletzend sein.
Wie trauern Menschen, die einen derart existenziellen Schock erleben?
Trauern ist etwas sehr Persönliches. Manche Menschen sind zuerst wie versteinert. Andere rutschen in eine Depression ab. Männer und Frauen trauern unterschiedlich. Das führt in Familien oft zu Problemen. Denn während Frauen eher das Gespräch und Unterstützung suchen, neigen Männer dazu, sich zurückzuziehen.
Könnte da nicht Anteilnahme aus dem Umfeld helfen?
Ja, nur weiss die Umgebung oft nicht, wie damit umzugehen. Nicht selten kommt der Gedanke: Mit einer Familie, in derein Suizid passiert, stimmt etwas nicht. Dieser Schluss liegt zwar nahe, ist aber falsch. Ich habe immer wieder völlig normale und unauffällige Familien betreut, in denen sich Jugendliche das Leben genommen haben. Ein Suizid kann jede Familie treffen.
Was gäbe Halt?
Wertfreie Unterstützung durch Mitmenschen, die nicht meinen, Erklärungen geben zu müssen. Letztlich ist auch für Nahestehende nicht wirklich nachvollziehbar, was in einem Menschen in der suizidalen Krise wirklich abgelaufen ist. Es bleiben immer offene Fragen. Damit muss man leben.
Wie ist das zu schaffen?
Die meisten Angehörigen brauchen therapeutische Unterstützung. Eine Therapie kann helfen, das Unfassbare besser einzuordnen. Auch nach einem derart drastischen Ereignis muss irgendwann das Leben der Angehörigen wieder weitergehen. Schuldgefühle führen nicht weiter. Man muss einen Weg finden, mit vielen unbeantworteten Fragen zu leben.
Wo finden Hinterbliebene Beistand?
Selbsthilfegruppen haben eine wichtige Funktion, desgleichen Bücher und Literatur zu diesem Thema.
Wie kann man einem Suizid vorbeugen?
Wenn jemand Andeutungen macht, sich zurückzieht oder in einen depressiven Zustand gerät, kann dies auf ein Suizidrisiko hindeuten. Leider behalten suizidale Menschen ihre Absichten allzu oft für sich. Ich wünschte mir, dass Menschen mit Suizidgedanken häufiger fachliche Hilfe suchten. Auf der Internetsite http://www.ipsilon.ch etwa gibt es entsprechende Hinweise. Die Dargebotene Hand und das Berner Bündnis gegen Depression geben Rat. Auch der Hausarzt kann eine erste Anlaufstelle sein.
http://www.migrosmagazin.ch/menschen/int...familie-treffen
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Mehr als 10.000 Selbsttötungen im Jahr
Durch Selbsttötung sterben in Deutschland mehr Menschen als durch Verkehrsunfälle, Mord und Totschlag, illegale Drogen und Aids zusammen. Wir sprachen mit einem Experten über Suizid-Prävention und Hilfsangebote für Angehörige.
Die Telefonseelsorge beschäftigt sich auf ihrem Weltkonkress in Aachen vom 19. bis zum 22. Juli mit dem Thema "Suizid als verdrängtes gesellschaftliches Problem". Was erhöht die Gefahr eines Suizids? Und wie kann die Gesellschaft das beeinflussen? Einige Antworten hat Georg Fiedler. Der Diplom-Psychologe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Uniklinikum in Hamburg und Experte für Suizid-Prävention.
WDR.de: Herr Fiedler, wie viele Menschen in Deutschland nehmen sich das Leben?
Georg Fiedler: Im Jahr 2014 - das sind die aktuellsten Zahlen, die uns vorliegen - starben in Deutschland 10.209 Menschen durch Suizid. Weit über 100.000 Menschen begingen einen Suizidversuch. Das sind mehr Tote als durch Verkehrsunfälle, Mord und Totschlag, illegale Drogen und Aids zusammen. Betroffen von Suizid sind aber viel mehr Menschen: Wir gehen davon aus, dass circa 60.000 Angehörige ebenfalls Hilfe benötigen. Denn Suizid hat eine Besonderheit: Er hinterlässt Schuldgefühle. Das Gefühl, versagt zu haben, nicht genug getan zu haben. Die Hinterbliebenen meinen dann häufig, es nicht Wert zu sein, dass man für sie weiterlebt. Die Trauerarbeit ist oft wesentlich langwieriger, als wenn ein Angehöriger an einer Krankheit wie Krebs stirbt.
WDR.de: Wie werden denn die Hinterbliebenen betreut?
Fiedler: Die Situation ist noch sehr unbefriedigend. Es gibt zwar Selbsthilfegruppen wie Agus und kirchliche Einrichtungen wie die Telefonseelsorge, aber im Gesundheitswesen selbst gibt es zu wenig Angebote. Als Angehöriger ist man ja nicht im engeren Sinne psychisch krank, aber eben doch in einer extremen Notsituation. Da sind Wartezeiten auf einen Therapeutenplatz von sechs bis neun Monaten wenig hilfreich.
WDR.de: Welche Rolle spielt die Gesellschaft?
Georg FiedlerPsychologe Georg Fiedler
Fiedler: Das ist schwer zu sagen, und man kann Suizid in der Regel nicht auf ein Phänomen zurückführen. Aspekte, die die Suizidrate ansteigen lassen können, sind Arbeitslosigkeit, schlechte medizinische Versorgung, die gute Verfügbarkeit von Mitteln, die zu Suizid führen. Genrell liegt häufig eine Verlust-Angst zugrunde. Und auch unangemessene Medienberichterstattung hat Einfluss auf die Suizidrate. Nach dem Tod des Torhüters Robert Enke stieg die Zahl der Menschen, die sich auf Bahngleisen das Leben genommen haben, deutlich an und ist bis heute höher als vor seinem Tod. Auch die Demografie spielt eine Rolle: Das Suizidrisiko steigt mit dem Lebensalter. Warum genau die Zahlen wieder steigen, wissen wir noch nicht. Die Debatte über die Sterbehilfe könnte ebenfalls eine Rolle spielen.
Generell wissen wir, dass die Suizidrate sinkt, wenn wir das Thema enttabuisieren - man also offen über seine Probleme spricht. Es hilft auch, wenn Personen, die einem möglicherweise Betroffenen nahestehen, das Thema ansprechen. Gesprächsangebote generell sind sehr wichtig, außerdem niedrigschwellige Hilfsangebote - am Telefon, im Internet, dabei muss die Anonymität gewahrt bleiben. Auch die Behandlungsmöglichkeiten für Risikogruppen spielt eine Rolle. Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen und Süchtige begehen häufiger einen Suizid, da sind Präventionsprogramme besonders wichtig.
WDR.de: Wie hat sich die Zahl der Suizide in den vergangenen Jahren entwickelt?
Fiedler: Seit den 1980er Jahren ist die Zahl deutlich zurückgegangen. Vermutlich, weil sich die psychosoziale Versorgung in der Zeit deutlich verbessert hat. Anfang der 1980er gab es bessere Medikamente, mehr Beratungsangebote und bessere Kliniken. Allerdings ist in den letzten Jahren, seit 2007, wieder ein leichter Anstieg zu erkennen.
WDR.de: Wie ist die Situation in Deutschland im internationalen Vergleich?
Fiedler: Bei der Suizidrate stehen wir ganz gut dar, international im unteren Drittel. In Europa ist die Suizidrate vor allem in den baltischen Ländern und in Russland hoch - dort spielt Alkoholsucht eine große Rolle beim Suizid. In fast allen Ländern nehmen sich mehr Männer das Leben als Frauen. Eine Ausnahme ist China - wir vermuten, dass das mit dem dortigen Frauenbild zu tun hat. Signifikante Unterschiede gibt es auch in den USA. Bei weißen Amerikanern ist es das bekannte Muster: Je älter, desto mehr Menschen begehen einen Suizid. Bei schwarzen Amerikanern ist das anders, da gibt es im Alter keinen Anstieg. Vermutlich spielen auch da kulturelle Faktoren eine Rolle - etwa starke familiäre Bindungen, die die Suizidgefährdung - wir sprechen dann von Suizidalität - senken.
WDR.de: Welche Hilfsangebote sind sinnvoll oder müssten ausgebaut werden?
Fiedler: Das Suizidrisiko ist bei allen psychiatrischen Erkrankungen erhöht. Derzeit gehen wir davon aus, dass 40 bis 60 Prozent derer, die Suizid begehen, eine depressive Erkrankung hatten. Und natürlich müssen diese Erkrankungen behandelt werden. Aber die Suizidalität ist eben ein zusätzlicher Aspekt, und die Behandlung gehört in professionelle Hände. Denn der Partner beispielsweise ist eben kein Therapeut. Was genau hilft, ist individuell sehr unterschiedlich. Es gibt zwar keine wirklich verlässlichen Zahlen darüber, aber Hinweise, dass niedrigschwellige Angebote besonders gut angenommen werden: Anonym, autonom, wo man sich jederzeit auch zurückziehen kann wie bei der Telefonberatung und Angeboten im Internet. Wünschenswert wäre aber auch hier, dass es im Gesundheitssystem mehr unkomplizierte Hilfsangebote gäbe - eine psychiatrische Klinik ist nicht für jeden die richtige Anlaufstelle. Da ist also noch erheblicher Bedarf.
http://www1.wdr.de/wissen/mensch/suizid-...schaft-100.html
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