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Vermisste Kinder
Die Eltern werden komplett alleine gelassen
Dienstag, 04.04.2017, 10:55
Der Fall der seit vielen Tagen verschwundenen Studentin Malina K. beschäftigt Deutschland.
Wer steht Angehörigen in einer solchen Situation bei? Fast niemand, sagt der Vermissten-Experte Peter Jamin. FOCUS Online veröffentlicht einen Auszug aus Jamins Buch, dem "Vermisst-Ratgeber".
Vermisste Menschen haben keinen Wert für die Gesellschaft. Sie wählen nicht. Sie zahlen keine Steuern. Sie existieren schlicht nicht mehr. Selbst die große Zahl der Betroffenen von jährlich weit mehr als 100.000 bei der Polizei als vermisst Registrierte beeindruckt niemanden. Wenn es um ihre Probleme geht, sind die Zahlen nichts wert.
Nur das einzelne Schicksal erregt Aufmerksamkeit und berührt die Menschen. Aber Emotionen für ein Schicksal werden schnell von Gefühlen für ein anderes Ereignis abgelöst. Die jährlich mehr als 500.000 Angehörigen von Vermissten erleiden ebenfalls einen Ansehens- und Wertverlust. Ihre Probleme werden ignoriert oder verharmlost und ihre Suche nach den Vermissten wird nicht ernst genommen.
Das Vermisst-Plakat, das einzige Medium, dessen sich die Angehörigen ohne Einschränkung bei der Vermisstensuche bedienen können, wird sogar verhöhnt: Hunde- und Katzenbesitzer, die ihre vierbeinigen Lieblinge suchen, betiteln ihre Flugzettel ebenfalls seit langem mit "Vermisst!". Und dem früheren Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich war es nicht zu primitiv in einer Werbekampagne "Vermisst!"-Plakate zu imitieren, um Angehörige von jungen Muslimen auf die Gefahren eines radikalen Islamismus und die damit verbundene Ausstiegsbereitsschaft junger Migranten aufmerksam zu machen.
Keine gewagte These: Niemand hilft
Wenn ein Mensch verschwindet, werden seine Angehörigen nicht nur von den Weggegangenen allein gelassen. Staat und Gesellschaft missachten ihre Bedürfnisse, Verwandte, Freunde, Bekannte und Arbeitskollegen wissen nicht, wie sie helfen sollen. Dabei sind die Angehörigen von Vermissten selbst Opfer – oft noch viel mehr als die verschwundenen Menschen. Schmerz, Verzweiflung und Hilflosigkeit der Daheimgebliebenen sind groß, und dabei spielt es keine Rolle, ob ein Mensch für einige Wochen oder Monate oder für Jahre oder gar für immer fortbleibt – die Pein beginnt in den ersten Stunden nach dem Vermisstsein.
Über den Autor
Jede Minute, jede Stunde, jeder Tag des Hoffens auf die Rückkehr eines geliebten Menschen ist für die Angehörigen eine Qual. Die Ungewissheit, ob die vermisste Person lebt oder tot ist, macht den Menschen schier verrückt. Und zu der seelischen Krise kommt noch ein organisatorisches Chaos, das mit dem Weggang eines Menschen fast immer einhergeht.
Die Angehörigen sehen sich ausgegrenzt - dabei wäre Hilfe so einfach
Die Angehörigen vermissen nicht nur eine Person, sondern eine ganze Gesellschaft, die ihre Hilferufe hört und entsprechend handelt. Doch davon ist Deutschland weit entfernt. Die vermisste Gesellschaft, die jedes Jahr mehr als 500.000 Angehörige und darüber hinaus deren Freunde, Bekannte und Arbeitskollegen ignoriert, hat sich in Jahrzehnten in Schweigen und Untätigkeit eingerichtet, statt den Betroffenen Aussprache und Unterstützung anzubieten. Die Angehörigen sehen sich ausgegrenzt. Ihnen fehlt eine auf Erfahrungen mit Vermisstfällen erprobte Gesprächsbegleitung für die Bewältigung vielfältiger Probleme im Alltagsleben sowie eine wissenschaftlich fundierte psychologische bzw. psychotherapeutische Betreuung.
Dabei wäre Hilfe recht einfach: Wenn Angehörige eine Vermisstmeldung bei der Polizei aufgeben, müssten sie ein spezielles Infoblatt mit einem Hinweis auf die Beratung und Unterstützung in der Sozialbehörde der Stadt- oder Gemeindeverwaltung erhalten – doch an keiner Tür einer Kommunalverwaltung hängt ein Schild "Angehörige von Vermissten willkommen". Im Gegenteil: Ratsuchende Angehörige werden meist schon von der Telefonzentrale abgewimmelt und an die Polizei verwiesen. Ein nationales, staatlich betriebenes Internetportal könnte mit Suchmeldungen, Ratgeber-Tipps und Betroffenen-Foren das kommunale Hilfsangebot flankieren – doch all das gibt es nicht.
Gesellschaft überlässt das "Geschäft" dubiosen Helfern im Internet
Vielmehr überlässt unsere Gesellschaft dieses "Geschäft" einer Reihe von dubiosen Helfern im Internet, bei denen es sich nicht selten um Spendensammler oder Detektive handelt. Und die recht simple "öffentliche" Suche nach Vermissten durch die Polizei findet versteckt auf Internetseiten des Bundeskriminalamtes und der 16 Landeskriminalämter statt. Gelegentlich findet auch eine Vermisstmeldung über die Pressestelle der örtlichen Polizei den Weg in die Regionalpresse.
Und so leiden die Ehemänner, Ehefrauen, Lebenspartnerinnen und -partner, Söhne und Töchter, Mütter und Väter, Großväter und -mütter, Schwiegermütter und Schwiegerväter in aller Stille unter der Ungewissheit, was mit der Vermissten oder dem Vermissten geschehen sein könnte und unter psychischen und organisatorischen Katastrophen, die mit dem Verschwinden einhergehen. Meist gibt es nicht einmal einen Abschiedsbrief, so dass man komplett im Unklaren darüber ist, warum der geliebte Mensch fortgegangen ist.
Ein soziales Entwicklungsland
Die Politik in Bund und Ländern, in Städten und Gemeinden verweigert sich den Problemen der Angehörigen von Vermissten. Sie lassen sie allein mit dem Gefühl, in einem sozialen Entwicklungsland zu leben. Für Sozialpolitiker ist die Unterstützung der Angehörigen kein Thema, weil man sich nicht mit noch einer weiteren Aufgabe befassen will. Das kostet Geld und Arbeitszeit, und so schweigt man im Bundestag ebenso wie in den 16 Länder- und Tausenden von Kommunalparlamenten.
Warum sollte man sich auch bewegen, wenn es keinen öffentlichen Druck und keine Lobbyisten gibt?! Politiker und Verwaltungsbeamte verweisen in seltener Geschlossenheit daraufhin, dass die Polizei allein für alle – auch die sozialen – Fragen zuständig sei. Doch die Polizei ist mangels Personal und aufgrund fehlender Qualifikation nicht in der Lage, sich um die Belange der Angehörigen zu kümmern. Man bemüht sich, stößt aber angesichts der großen Zahl Betroffener schnell an Grenzen.
Die Polizei selbst macht aus dem Vermisst-Thema keine große Sache. Eigentlich ist ihr diese Arbeit auch fremd. Die Unterstützung der Angehörigen nach Vermissten durch die Polizei hat nur am Rande mit Kriminalitätsbekämpfung zu tun und auch kaum mit dem Opferschutz im Zusammenhang mit Gewalttaten, den die Polizei seit Jahren intensiviert hat. Nur bei Gewaltverbrechen, denen jährlich etwa ein Prozent aller Verschwundenen zum Opfer fallen, sowie bei der Aufklärung nicht identifizierbarer Leichen ohne Namen sind Kriminalbeamte gefragt. Und Aufgabe der Polizei ist es selbstverständlich auch nach verschwundenen Kindern oder an Demenz Erkrankten zu suchen. Sozialarbeit fällt nicht in ihren Zuständigkeitsbereich.
Einen gesetzlich vorgeschriebenen Handlungsbedarf haben kommunale Behörden nicht
Bei den kommunalen Behörden herrscht Verunsicherung, weil sie sich mit einer Betreuung von Angehörigen von Vermissten auf unbekanntes Terrain begeben würden. Natürlich ist auch eine Ignoranz gegenüber Neuerungen weit verbreitet. Sich auf ein neues Gebiet zu wagen, erfordert schließlich besonderes Engagement, für das man weder Zeit noch finanzielle Mittel hat. Vor allem gibt es für sie Gott sei Dank keinen gesetzlich vorgeschriebenen Handlungsbedarf, weil diese Aufgabe aus unerfindlichen Gründen der Polizei zugeordnet ist.
Die Stadtverwaltung Düsseldorf beispielsweise verweist auf ihren Internetseiten unter den Stichworten "Vermisste" und "Überregionale Hilfe" sogar gleich mit Link an das Bundeskriminalamt in Wiesbaden – von Hilfe vor Ort ist erst gar nicht die Rede. Vermisst-Beratung kostet außerdem Geld, vor allem für das Personal, das die Unterstützung leisten muss. Für jeden Fall ist ein Zeitfenster von mindestens zwei bis drei Stunden für eine professionelle Beratung zu veranschlagen.
Sich auf Hilfsmaßnahmen für die Angehörigen von Vermissten einzulassen, ist für den Staat wie für eventuell interessierte karitative Organisationen also recht teuer. Als im Jahre 2004 ein Tsunami in Südostasien rund 3.000 deutsche Urlauber zu Vermissten machte, reagierten die Behörden in Bund, Ländern und Kommunen mit vielen Aktivitäten – und erkannten dabei, wie teuer gute Unterstützung für die Angehörigen von Vermissten wirklich ist.
Das Vermisstsein wird in Statistiken verwaltet - und das war's
Die Wissenschaften – vorrangig die Psychologie – lassen die Angehörigen ebenfalls allein. Sie können nur einen leeren Bücherschrank vorweisen. Ohne Grundlagenforschung doktern Therapeuten an den Problemen der Angehörigen herum. Nicht selten lautet ihr Ratschlag: Denken Sie einfach, die vermisste Person wäre tot und schließen sie mit deren Existenz ab. Aber die Angehörigen von Vermissten spielen da nicht mit.
Die Wissenschaft hat keine Antwort auf die vorrangigste Frage, wie Angehörige mit der Ungewissheit leben sollen, also damit, nicht zu wissen, was den Vermissten wohl passiert sein könnte. Die Betroffenen bleiben mit einer verschreckenden Bilderwelt aus Mord, Selbsttötung, Totschlag, Unfall oder Entführung und einer schmerzhaften Gefühlswelt aus Ohnmacht, Verzweiflung, Ausweg- und Hoffnungslosigkeit allein.
Fazit: Das Vermisstsein wird – bis auf Einzelfälle – verwaltet und in Statistiken abgearbeitet. Das war‘s.
Der "Vermisst-Ratgeber" ist im Magenta-Verlag erschienen und als Print-Ausgabe und E-Book erhältlich.
http://www.focus.de/politik/deutschland/...id_6885845.html
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